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Kürzlich hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Computerspielsucht
("Gaming Disorder") als psychische Erkrankung anerkannt. Nun
veröffentlichen Forschende um den Ulmer Psychologieprofessor Christian
Montag den ersten psychologischen Test zur "Gaming Disorder". Der Online-
Test ist bereits an mehr als 550 Studierenden aus Großbritannien und China
erprobt worden und soll die Grundlage einer der bislang größten
wissenschaftlichen Untersuchung zur Computerspielsucht bilden.

Seit einigen Tagen ist exzessives Computerspielen eine von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte psychische Erkrankung. Die
Aufnahme der „Gaming Disorder“ in den Krankheitskatalog der WHO und die
damit einhergehende Definition bieten neue Möglichkeiten, gesundheitliche
und psychosoziale Auswirkungen des exzessiven Computerspielens zu
erforschen. Jetzt haben Forschende um Professor Christian Montag von der
Universität Ulm den weltweit ersten psychologischen Test zur Untersuchung
der Computerspielsucht entwickelt und anhand einer Stichprobe von mehr als
550 Studierenden aus Großbritannien und China überprüft. Parallel zu ihrer
Veröffentlichung im Fachjournal „International Journal of Mental Health
and Addiction“ machen die Forschenden den „Gaming Disorder Test“ im
Internet auch in deutscher Sprache öffentlich zugänglich. Über die Online-
Plattform www.gaming-disorder.org erhalten Probandinnen und Probanden
nicht nur Rückmeldung zu ihrem Videospielverhalten im Vergleich zu den
übrigen Studienteilnehmenden: Mit ihrer Teilnahme können sie auch eine der
bisher größten Untersuchungen zur Computerspielsucht nach WHO-Definition
unterstützen.

Wer sein Gaming-Verhalten nicht mehr kontrollieren kann, dem Computerspiel
Priorität gegenüber anderen Aktivitäten einräumt und an diesem Verhalten
trotz negativer Konsequenzen nichts ändert, könnte gemäß WHO-Definition
unter Computerspielsucht leiden. Bereits vor einigen Monaten hat die
Weltgesundheitsorganisation die so genannte Gaming Disorder in die 11.
Auflage ihres Krankheitskatalogs „International Classification of
Diseases“ (ICD-11) aufgenommen – nun wurde der Katalog auch offiziell
erweitert. Laut WHO kann jedoch erst von Computerspielsucht ausgegangen
werden, wenn Betroffene dieses Verhaltensmuster über mindestens 12 Monate
zeigen und es zu schweren Beeinträchtigungen des Familienlebens, der
Ausbildung oder etwa der Arbeitsleistung kommt.
Bereits 2013 wurde das verwandte Störungsbild „Internet Gaming Disorder“
zumindest als Arbeitsbegriff in den Anhang des Diagnoseverzeichnises
(„Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ – DSM-5) der
amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft aufgenommen. Aufgrund
abweichender diagnostischer Kriterien lassen sich Ergebnisse von
bisherigen psychologischen Tests zur „Internet Gaming Disorder“ jedoch nur
bedingt auf die Computerspielsucht nach WHO-Kriterien übertragen. Daher
haben Forschende aus Ulm, Köln, London sowie von chinesischen
Universitäten und aus Australien das wohl weltweit erste psychometrische
Instrument zur Untersuchung der „Gaming Disorder“ nach den neuen WHO
Kriterien entwickelt.

Der nun vorgestellte Online-Fragebogen orientiert sich an den Kriterien
der WHO und erfasst Gaming-Aktivitäten der vergangenen zwölf Monate bis
zum Tag der Erhebung auf einer Skala von eins bis fünf (1 steht für die
Selbsteinschätzung „nie“ und 5 bedeutet „sehr oft“). Ziel des
psychometrischen Instruments ist weniger die Diagnose als die Erforschung
von Auswirkungen des exzessiven Spielens. Studienteilnehmerinnen und
-teilnehmer erfahren lediglich, ob ihre Ergebnisse im Vergleich mit allen
Probanden eine Tendenz zur „Gaming Disorder aufweisen.

Anhand einer Stichprobe aus mehr als 550 jungen Chinesen und Briten haben
die Forschenden ihren neuen „Gaming Disorder Test“ bereits überprüft.
„Exzessives Videospielen ist schon heute ein ernst zu nehmendes
Gesundheitsrisiko in asiatischen Ländern und ein aufkommendes Problem in
Europa. Um große, internationale Studien durchführen zu können, haben wir
das neue Instrument kulturübergreifend konzipiert und in China sowie
Großbritannien getestet“, erläutert Christian Montag, Heisenberg-Professor
sowie Leiter der Abteilung für Molekulare Psychologie an der Universität
Ulm.
Die Stichprobe umfasste 236 junge Chinesinnen und Chinesen, die an einer
Universität in Beijing studierten, sowie 324 britische Studierende aus dem
Großraum London und aus den East Midlands. Das Durchschnittsalter betrug
23 Jahre. Ausschlusskriterium für die Teilnahme an der Online-Befragung
war die Angabe, in den letzten zwölf Monaten kein Videospiel gespielt zu
haben.

Nach Abschluss der Erhebung haben die Forschenden mit komplexen
statistischen Verfahren überprüft, ob sich das Instrument zur Messung der
Computerspielsucht eignet („Validität“) und ob es das Konstrukt
zuverlässig misst („Reliabilität“).
Zudem konnten sie erste Rückschlüsse auf das Gaming-Verhalten der
untersuchten chinesischen und britischen Studierenden ziehen. So
unterschied sich das Vorkommen der Computerspielsucht nach WHO-Kriterien
zwischen beiden nationalen Gruppen nicht signifikant. Im Mittel gaben die
Studierenden an, 12 Stunden in der Woche zu spielen. Dabei verbringen sie
fast die Hälfte dieser Zeit (46 %) am Wochenende alleine vor dem Computer
oder sonstigen mobilen Endgeräten. Insgesamt 36 Teilnehmende (6,4 %)
berichteten von großen Problemen im Alltag aufgrund ihres Spielverhaltens
und könnten somit die Diagnosekriterien der WHO erfüllen. Nach diesem
Testlauf ziehen die Forschenden eine positive Bilanz: „Der Gaming Disorder
Test scheint geeignet, um die Häufigkeit und, in Kombination mit anderen
Fragebögen, auch Effekte der Computerspielsucht in großen,
kulturübergreifenden Gruppen nach den vorgeschlagenen WHO-Kriterien
festzustellen“, so Montag. Künftig müsse der neue Fragebogen noch an
Patientenstichproben validiert werden.

Aktuell plant die Forschergruppe die bislang größte Untersuchung zur
Computerspielsucht mit möglichst Tausenden von Teilnehmern: Für alle
Interessierten steht der Gaming Disorder Test ab sofort in deutscher und
englischer Sprache online zur Verfügung (www.gaming-disorder.org, www.do-i
-play-too-much-videogames.com). Weitere Probandinnen und Probanden wollen
die Forschenden unter anderem über die „Electronic Sports League“ (ESL)
rekrutieren, dem nach eigenen Angaben weltweit größten Esports-Anbieter
mit engen Verbindungen zur „Gaming Community“. Rodrigo Samwell,
Marketingverantwortlicher von ESL, betont, dass das Esports-Unternehmen
zur verantwortungsvollen Nutzung von Computerspielen beitragen möchte und
Nutzern dabei helfen will, ihr eigenes Spielverhalten zu reflektieren.
Daher unterstütze ESL die wissenschaftliche Studie. Insgesamt hoffen die
Forschenden zu verstehen, an welchem Punkt Computerspielen zum
(gesundheitlichen) Problem wird, und welche Faktoren zum Entstehen der
„Gaming Disorder“ beitragen – untersucht werden zum Beispiel
soziodemographische Merkmale, die individuelle Persönlichkeit und
Motivation der Gamer.

An der Studie beteiligt waren Forschende der Medizinischen Fakultät der
University of Tasmania (Australien), der Birkbeck University in London,
der chinesischen Beijing University sowie der University of Electronic
Science and Technology of China in Chengdu. Aus Deutschland wirkten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Ulm und Köln
maßgeblich mit. Dabei erhielt Christian Montag über seine Heisenberg-
Professur Fördermittel der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG).

Zum Begriff „Gaming Disorder“
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das neue Krankheitsbild als
„Gaming Disorder“ in ihren Katalog „International Classification of
Diseases“ aufgenommen. Bisher gibt es keine einheitliche deutsche
Übersetzung: Oft werden die im Deutschen anschaulichen Begriffe
„Computerspielsucht“ oder „Videospielsucht“ verwendet. Dazu ist
anzumerken, dass die WHO von der Bezeichnung „Sucht“ absieht. Vielmehr
beschreibt der im Englischen verwendete Begriff „Gaming Disorder“ eine
Störung, die durch exzessives Computerspielen gekennzeichnet ist. Es
bleibt abzuwarten, welcher Begriff sich im Deutschen durchsetzen wird.