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Die Situation in China könnte sich drastisch verschlechtern. Die
Befürchtungen von Prof. Helmut Wagner von der FernUniversität in Hagen
reichen bis zu einer Finanzkrise. Anlass hierfür sind die vielen Millionen
Beschäftigten, die nach dem Neujahrsfest, das sie bei ihren Familien
verbracht haben, nun zu ihren Arbeitsstätten zurückkehren. Während die
Krise aufgrund der geringen wirtschaftlichen Bedeutung der Stadt Wuhan und
der Provinz Hubei noch sehr begrenzt ist, könnte eine Verbreitung in den
Metropolen immense Folgen haben. Zudem könnte das Virus auf der Neuen
Seidenstraße zeitverzögert weiterwandern. China war 2018 zum dritten Mal
in Folge Deutschlands größter Handelspartner.

„Bisher gab es in China eine Ausnahmesituation“, sagt Helmut Wagner. Der
Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere
Makroökonomie an der FernUniversität in Hagen ist ein ausgewiesener Kenner
der Volkswirtschaft im Reich der Mitte und der Pekinger
Wirtschaftspolitik. Doch beruhigend klingen die Worte von Prof. Dr. Wagner
nicht wirklich, denn er sieht in China aktuell „verhältnismäßig positive“
Umstände, die bald zu Ende sein könnten – mit entsprechenden Folgen für
die deutsche Wirtschaft: „Wenn sich das Virus weiter ausbreitet, reden wir
über ganz andere Dimensionen.“

Dagegen ist das Problem jetzt noch begrenzt: „Wuhan mit 12 Millionen und
die Provinz Hubei mit 60 Millionen Menschen sind für chinesische
Verhältnisse klein, Hubei trägt mit lediglich etwa vier Prozent zum
Bruttoinlandsprodukt bei“, erläutert Prof. Wagner.

Jedoch kehren nun viele Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter
sowie unzählige Festangestellte, die das chinesischen Neujahrsfest am 25.
Januar bei ihren Familien verbracht haben, an ihre Arbeitsorte zurück. Der
Volkswirt: „Alleine nach Peking kommen acht Millionen! Niemand weiß, ob
sie das Virus in sich tragen.“ 2018 gab es in China insgesamt rund 288,4
Millionen Wanderarbeiter; davon arbeiteten 172,7 Millionen außerhalb und
115,7 Millionen innerhalb ihrer Heimatprovinz (Quelle: National Bureau of
Statistics of China).

Menschen noch diszipliniert

Die größte Gefahr ist das Vordringen des Virus in die
Hauptproduktionszentren wie Peking und Shanghai oder das
Innovationszentrum Shenzhen, wo jetzt, nach dem Fest, die Produktion
wieder hochgefahren wird und wo es auch die meisten Verbindungen und
Kontakte zu ausländischen Unternehmen gibt.

Gefährlich wird es auch, wenn es länger dauert, die Krankheit einzudämmen,
etwa durch ein Gegenmittel (das es noch nicht gibt). „Noch sind die
Menschen diszipliniert, die meisten befolgen die Direktiven und sind auch
mit der Isolation einverstanden.“ Wenn jedoch der Erfolg der Maßnahmen zu
lange ausbleibt, könnten sie die Gefahrenzonen unkontrolliert verlassen.
Unter ihnen viele Infizierte, die jedoch scheinbar gesund sind: „Es lässt
sich nichts abschotten, wenn Menschen keine Symptome zeigen.“

Übergreifen hätte fatale Folgen

Ein großflächiges Übergreifen auf andere Regionen und insbesondere auf die
Metropolen dürfte wirtschaftlich fatale Folgen haben. Angesichts der
internationalen Vernetzung könnten sie schnell Deutschland und die ganze
Welt in einer noch nicht abschätzbaren Weise betreffen: „Wenn die großen
europäischen und amerikanischen Konzerne – unter anderem VW, Apple oder
General Motors – ihre Werke dort schließen, gibt es Riesenprobleme!“

Produktionsausfälle in China würden „ganz schnell zu Engpässen in den
Lieferketten führen“, gibt der Volkswirt zu bedenken: „Viele Vor- und
Zwischenprodukte, die deutsche Betriebe benötigen, werden heute
termingerecht aus China importiert, z.B. Kfz-Elektronikbauteile. Fehlen
sie hier, bleiben beim Hersteller hier die Produktionsbänder stehen.“ Er
sucht dann fieberhaft nach Ersatzlieferanten – aber viele andere eben
auch.

Nicht nur Industrie eng verflochten

Wie abhängig die Welt heute von China ist, macht Wagner an einem Beispiel
deutlich: Dort werden 80 Prozent der aktiven Ingredienzien für alle
Medikamente weltweit hergestellt. Wenn sie nicht mehr geliefert werden,
können auch Herz-, Krebs- und viele andere Kranke betroffen sein.
Betroffen sind z.B. auch der Konsumgütersektor und der
Dienstleistungsbereich. Alleine in Tourismus und Luftfahrtwirtschaft
rechnet man heute bereits mit 10 Milliarden Euro an Verlusten.

Mit früheren Epidemien ist die heutige Situation für Prof. Wagner kaum
noch vergleichbar, weil die Weltwirtschaft viel vernetzter ist. Als das
SARS-Virus 2002 in 26 Ländern 774 von 8.096 Erkrankten tötete, hatte
Chinas Bruttoinlandsprodukt weit unter fünf Prozent Anteil am globalen
BIP. Heute sind es fast 17 Prozent.

Viren über Neue Seidenstraße nach Europa?

Nicht nur die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie können Deutschland
betreffen, auch das Virus selbst kann in viel stärkerem Maß als bisher
hierherkommen, etwa über Kontakte mit chinesischen Beschäftigen eines
Unternehmens, durch internationale Konferenzen oder durch Touristinnen und
Touristen.

Eine „Zeitbombe“ könnte Chinas Neue Seidenstraße zum Ticken bringen: Auf
verschiedenen Wegen zu Land und zu Wasser will China mit diesem
gigantischen Projekt seine Waren vermehrt exportieren. Vor allem in Afrika
bauen chinesische Unternehmen Straßen und Bahntrassen hierfür: „Auf diesen
Wegen könnte das Virus zeitverzögert zu uns kommen, wenn es in China
selbst bereits unter Kontrolle ist. Verbreiten könnten es Beschäftigte,
die die Neue Seidenstraße bauen“, gibt Wagner zu bedenken. „Die größte
Gefahr ist, wenn das Virus in Entwicklungsländer eingeschleppt würde –
Isolation ist dort kaum möglich, die medizinische Versorgung ist in
manchen Ländern katastrophal.“

Sinkende Nachfrage

Selbst wenn die Krise im zweiten Quartal des Jahres 2020 ausgestanden
wäre, würde die wirtschaftliche Expansion in China um 1,5 bis 2,0 Prozent
im ersten Quartal vermindert werden. Aufs Jahr gerechnet wären es immer
noch 0,5 Prozent. Das ist sogar noch die optimistische Erwartungshaltung,
von der jedoch immer mehr Fachleute abrücken, so Wagner. Zu befürchten ist
also ein Sinken der chinesischen Nachfrage: „Wie hoch die ökonomischen
Kosten der Krise sein werden, hängt davon ab, wie lange sie dauert und
wann ihr Höhepunkt ist“, so Wagner. „Die chinesischen Ärztinnen und Ärzte
haben die Prognose bzgl. des Scheitelpunkts ja bereits von Mitte Februar
auf das Monatsende verschoben.“ Mediziner aus Hongkong und London gehen
jedoch bereits von April bis Mai aus.

Die Zuverlässigkeit chinesischer Erfolgsmeldungen sieht Wagner vor dem
Hintergrund der Sanktionen Pekings für Warner und Whistleblower
zurückhaltend: „Die chinesische Regierung hat große Sorge und versucht,
vieles unter der Decke zu halten in der Hoffnung, dass sich die
Infektionsrate jetzt abflacht.“ Offensichtlich nimmt jedoch in der
Bevölkerung das Misstrauen gegen die Beschwichtigungsversuche zu.

Droht Finanzkrise?

Ein weiteres Thema sind die Stützungsmaßnahmen der chinesischen Regierung.
Sie könnten zu einer weltweiten Finanzkrise führen: „Man kann davon
ausgehen, dass die Regierung das hohe Wachstum mit einer Vielzahl von
Maßnahmen stützen will.“ Präsident Xi hat versprochen, dass der
Lebenswohlstand pro Kopf bis Ende 2020 im Vergleich zu 2010 verdoppelt
wird. „Darauf vertraut die Bevölkerung. Durch die Krise wird das aber
nicht mehr erreicht werden können, obwohl Peking es mit allen Mitteln –
etwa Zinssenkungen und großzügige Finanzmittel für Unternehmenskredite –
noch schaffen will. Eine neue Finanzkrise in China ist nicht
auszuschließen, weil sich bereits hochverschuldete Unternehmen noch weiter
verschulden. Viele sind ja bereits fast pleite. Das könnte dann auch zu
uns ‚überschwappen‘.“

Zwischen zwei Übeln wählen

„Wir werden noch Wochen und vielleicht Monate mit der Ungewissheit leben
müssen, ob der Höhepunkt der Krankheit überschritten ist. Das macht die
Situation für die Politikerinnen und Politiker, die letztendlich
entscheiden müssen, noch komplizierter. Vielleicht müssen sie zwischen
zwei Übeln wählen: sofort entstehenden Kosten durch die konsequente
Abschottung Chinas und damit verbunden geringerem Wachstum oder spätere,
vielleicht viel höhere Kosten aufgrund der Erkrankung vieler Menschen in
aller Welt.“

Dabei vergisst der Wissenschaftler aber auch nicht die tragische Seite
jedweder Entscheidung: „Wenn es viele Millionen Tote gibt: Was nützen
danach der Aufschwung und Nachholeffekte? Den Menschen, die gestorben
sind, jedenfalls nichts.“

200 Milliarden Euro Handelsvolumen

Deutschland ist mit Abstand Chinas größter europäischer Handelspartner.
China war 2018 zum dritten Mal in Folge Deutschlands größter
Handelspartner. Im Jahr 2018 belief sich das bilaterale Handelsvolumen auf
knapp 200 Milliarden Euro. Auf die deutschen Exporte nach China entfielen
rund 93 Milliarden Euro und auf die deutschen Importe aus China knapp 106
Milliarden Euro. Deutsche Exportgüter waren vor allem Maschinen, Kfz und
Kfz-Teile, Elektrotechnik und Chemie. Der Bestand deutscher
Direktinvestitionen in China betrug im Jahr 2017 81 Milliarden Euro.

Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2020

Hinweis: Prof. Dr. Helmut Wagner ist Inhaber des Lehrstuhls für
Volkswirtschaftslehre, insb. Makroökonomik an der FernUniversität in Hagen
und Präsident des Center for East Asian Macroeconomic Studies (CEAMeS,
https://www.fernuni-hagen.de/ceames/en/index.shtml).