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Am 20. Februar 2020 verabschiedete der Deutsche Ethikrat seine Ad-hoc-
Empfehlung „Trans-Identität bei Kindern und Jugendlichen: Therapeutische
Kontroversen – ethische Orientierungen“ mit folgendem Wortlaut:

Der Deutsche Ethikrat lud am 19. Februar 2020 zu einer öffentlichen
Abendveranstaltung der Reihe „Forum Bioethik“ zum Thema Trans-Identität
bei Kindern und Jugendlichen ein, um die Öffentlichkeit für die in
mehrfacher Hinsicht diffizilen Fragen eines angemessenen
gesellschaftlichen und medizinischen Umgangs mit Trans-Identität zu
sensibilisieren und dazu mit betroffenen Personen, Expertinnen und
Experten aus Medizin, Ethik und Recht sowie dem Publikum in einen Dialog
zu treten.

Die Zahl derjenigen Kinder und Jugendlichen, die ihre empfundene
geschlechtliche Identität im Widerspruch zu der ihnen
personenstandsrechtlich zugeschriebenen Geschlechtszugehörigkeit
wahrnehmen, ist in den letzten Jahren sehr stark gestiegen. Kritisch
diskutiert wird, welche Konsequenzen daraus zu ziehen und insbesondere
welche medizinischen und psychotherapeutischen Angebote angemessen sind.
Auch der Gesetzgeber hat begonnen, sich damit zu befassen (vgl.
Referentenentwurf des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz
„Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden
operativen Eingriffen“ sowie „Gesetz zum Schutz vor
Konversionsbehandlungen“, Kabinettsbeschluss vom 18.12.2019). Bei Kindern
und Jugendlichen, ohnehin eine besonders vulnerable Gruppe, erfordern die
im Kontext von Trans-Identität erwogenen therapeutischen Maßnahmen eine
besondere ethische Reflexion.

Eine Spannung entsteht dadurch, dass sich einerseits Reflexions- und
Entscheidungsfähigkeit im Heranwachsenden erst entwickeln und andererseits
die in der Pubertät stattfindende körperliche Entwicklung Zeitdruck
schafft. In dieser Situation können sowohl die in Betracht gezogenen
Behandlungsmöglichkeiten als auch deren Unterlassung schwerwiegende und
teils irreversible Folgen haben. Für die beteiligten Erwachsenen – die
sorgeberechtigten Eltern und die behandelnden Fachleute – stellt sich
dabei überdies die Aufgabe, sowohl die Vorstellungen und Wünsche des
Kindes zu berücksichtigen als auch dessen Wohl zu schützen. Die ethische
Herausforderung besteht darin, Minderjährige auf dem Weg zu einer eigenen
geschlechtlichen Identität zu unterstützen und zugleich vor – teils
irreversiblen – Schäden zu bewahren. Erschwerend kommt hinzu, dass einige
Entscheidungen getroffen werden müssen, wenn das Kind noch nicht
vollumfänglich einsichts- und urteilsfähig ist.

Dem Deutschen Ethikrat ist bewusst, dass Eltern sowie beratende und
behandelnde Personen in dieser Situation vor einer überaus komplexen und
verantwortungsvollen Aufgabe stehen.
Die Ursachen des deutlichen Anstiegs der Zahl der Behandlungs- und
Beratungssuchenden, unter diesen ein hoher Anteil von (nach ihrem
Geburtsgeschlecht) weiblichen Jugendlichen, sind umstritten und bedürfen
dringend weiterer Klärung. Auch die langfristigen Auswirkungen
medizinischer Behandlungen müssen weiter untersucht werden, um die
schwierigen prognostischen Entscheidungen auf eine bessere empirische
Basis zu stellen.

Dem Deutschen Ethikrat scheint es gleichwohl geboten, schon jetzt
zumindest auf die folgenden ethischen Grundsätze als Orientierung bei der
Begleitung und Behandlung hinzuweisen:

- Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst auch das Recht, ein Leben
entsprechend der eigenen, subjektiv empfundenen geschlechtlichen Identität
zu führen und in dieser Identität anerkannt zu werden.

- In allen Entscheidungsprozessen muss das Kind gehört und müssen seine
Vorstellungen und Wünsche seiner Reife und seinem Alter entsprechend
berücksichtigt werden. Diese Regel erhält umso mehr Gewicht, als es hier
um Fragen der persönlichen Identität geht, über die die betroffene Person
in letzter Konsequenz selbst zu entscheiden hat.

- Die therapeutische Interaktion mit dem Kind muss so gestaltet sein, dass
es an die mit zunehmendem Alter folgenreicher werdenden Entscheidungen
herangeführt wird. Die Sorge tragenden Eltern und die behandelnden
Personen haben die Aufgabe, das Kind dabei bestmöglich zu unterstützen.

- Ist das Kind hinreichend einsichts- und urteilsfähig, um die Tragweite
und Bedeutung der geplanten Behandlung zu verstehen, sich ein eigenes
Urteil zu bilden und danach zu entscheiden, muss sein Wille maßgeblich
berücksichtigt werden. Ohne seine Zustimmung oder gar gegen seinen Willen
– allein aufgrund der Einwilligung seiner Eltern – darf das Kind dann
nicht behandelt werden.

- Nutzen und Schaden der medizinisch-therapeutischen Maßnahmen, die im
Einzelnen umstritten sind, müssen in jedem individuellen Fall sorgfältig
abgewogen werden. Wie die Risiken, (Neben-) Wirkungen und langfristigen
Folgen (einschließlich möglicher Infertilität), die dem/der Minderjährigen
durch aktives medizinisch-therapeutisches Eingreifen entstünden, müssen
auch solche berücksichtigt werden, die durch das Unterlassen von Maßnahmen
drohen. Gerade angesichts der Streitigkeit einzelner Handlungsoptionen
haben Betroffene und ihre Eltern einen Anspruch auf eine ausgewogene
Beratung und Aufklärung.

- Ein entstigmatisierender Umgang mit Trans-Identität bei Kindern sollte
gefördert und einer diskriminierenden Pathologisierung von
Geschlechtsinkongruenz entgegengewirkt werden. Entsprechende Angebote
psycho-sozialer Beratung und deren Kooperation mit medizinischen
Einrichtungen sollen gestärkt werden.

Weitere Informationen zu diesem Thema finden sich unter
https://www.ethikrat.org/forum-bioethik/trans-identitaet-bei-kindern-und-
jugendlichen-therapeutische-kontroversen-ethische-fragen/
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