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Dr. Hendrik Träger  Foto: Swen Reichhold
Dr. Hendrik Träger Foto: Swen Reichhold

Die Corona-Pandemie stellt bisher nie dagewesene Anforderungen an das
Krisenmanagement der Bundesregierung. Obwohl es für eine solch schwierige
Situation keinen Masterplan gibt, handele sie im Vergleich zu anderen
Regierungen fokussiert und agiere bedacht, ohne Panik zu verbreiten, sagt
Politikwissenschaftler Dr. Hendrik Träger (38) von der Universität
Leipzig. Aber: "Bei der Kommunikation besteht noch Potenzial nach oben."
Zugleich konstatiert er im nachfolgenden Interview, dass der Föderalismus
vor allem in Krisenzeiten wie diesen an seine Grenzen stößt.

Wie beurteilen Sie generell das Corona-Krisenmanagement der
Bundesregierung?

Bei der Beurteilung des Krisenmanagements ist zu berücksichtigen, dass die
politischen Akteure in Deutschland ebenso wie in den anderen Ländern vor
einer extrem großen Herausforderung stehen, für die es wahrscheinlich
keinen Masterplan in den Schubladen der Ministerialbürokratie gibt.
Außerdem hat sich die Situation vor allem in der ersten Zeit täglich
beziehungsweise fast stündlich geändert, sodass der politische Prozess
einer erheblichen Dynamik unterworfen war. Das, was am Mittag besprochen
wurde, konnte bereits am Abend von der neuen Realität überholt gewesen
sein. Welche enorme psychische Belastung die gegenwärtige Situation
offenbar auf politische Entscheidungsträger – wie für alle Berufsgruppen,
die in der aktuellen Lage besonders gefordert sind – bedeuten kann, zeigt
der Suizid des hessischen Finanzministers Thomas Schäfer am Wochenende.
Angesichts der Dimension der Herausforderung ist zu konstatieren, dass die
Bundesregierung auch im Vergleich zu anderen Staaten fokussiert und
bedacht agiert, ohne Panik zu verbreiten oder die Lage zu beschönigen. Die
einzelnen Ministerien treffen in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich
Entscheidungen beziehungsweise bereiten diese vor. Das betrifft nicht nur
das Gesundheitsministerium unter Führung von Jens Spahn, sondern auch
andere Ressorts: Während sich beispielsweise Innenminister Horst Seehofer
um die Schließung der staatlichen Grenzen kümmerte, ließen Arbeitsminister
Hubertus Heil und Wirtschaftsminister Peter Altmeier Programme zur
Unterstützung von Unternehmen und Arbeitnehmern erarbeiten. Im
Finanzministerium von Olaf Scholz musste geklärt werden, wieviel Geld für
die einzelnen Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden kann. Jetzt, in der
Krisensituation, zahlte sich die rigide und oft kritisierte
Haushaltspolitik der letzten Jahre aus; mit leeren Kassen wären
verschiedene Programme kaum finanzierbar gewesen. Mittlerweile hat der
Bundestag sogar schon einige Projekte verabschiedet und damit gezeigt,
dass die parlamentarische Demokratie auch in Krisenzeiten handlungsfähig
ist.
Zu kritisieren ist aber teilweise die Kommunikation gegenüber der
Öffentlichkeit. Am Anfang sind einige Tage vergangen, an denen sich
diverse Minister mehrmals zu Wort gemeldet haben, bevor Kanzlerin Angela
Merkel etwas wirklich Wahrnehmbares sagte. In ihrer Fernsehansprache hat
sie dann doch aber geeignete Worte gefunden. Dass Frau Merkel kein
rhetorisches Talent wie Krisenmanager vom Schlage eines Helmut Schmidt
hat, dürfte nach fast 15 Jahren allen klar sein. Es wäre aber
wünschenswert, dass sich die Kanzlerin etwas häufiger öffentlich zu Wort
meldet und den aktuellen Stand der Dinge erklärt. Diesen Part hat Olaf
Scholz als Vize-Kanzler teilweise übernommen und betont, dass es zynisch
sei, die Verluste der Wirtschaft und Menschenleben gegeneinander
aufzurechnen. Problematisch finde ich allerdings, wenn nicht die
Regierungschefin, sondern der Kanzleramtschef Helge Braun, der nur
politisch interessierten Kreisen der Bevölkerung bekannt sein dürfte,
erklärt, dass vor dem 20. April wahrscheinlich nicht über eine Änderung
der Ausgangsbeschränkungen nachgedacht werde. Eine solche Botschaft wäre
die Aufgabe der Kanzlerin gewesen.  Bei der Kommunikation besteht also
noch Potenzial nach oben.

Welche Parteien profitieren von der gegenwärtigen Krisensituation, welche
nicht?

In Krisenzeiten können häufig die Regierungsparteien punkten. Das war zum
Beispiel auch 2002 bei der sogenannten „Jahrhundertflut“ an der Elbe zu
beobachten, die von der Dimension her aber nicht mit der Corona-Pandemie
vergleichbar ist. Damals hat die SPD vom Krisenmanagement von Kanzler
Gerhard Schröder profitiert und letztlich auch deswegen die Bundestagswahl
knapp gewonnen.
Aus aktuellen Umfragen wissen wir, dass vor allem die Unionsparteien und
auch etwas die SPD in den Zustimmungswerten gestiegen sind. Demgegenüber
haben die Oppositionsparteien einige Punkte verloren, denn sie kommen in
der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr richtig vor. Was sollen sie auch
machen? Kritisieren sie stets und ständig die Regierung, gelten sie als
Dauernörgler, die aus der Komfortzone der Opposition heraus alles besser
wissen, aber sich nicht dem Praxistest unterziehen müssen. In diesem
Kontext ist vor allem die FDP, die 2017 die Gespräche über eine „Jamaika-
Koalition“ hat platzen lassen, in einer schwierigen Situation.
Ob die gestiegenen Zustimmungswerte der Regierungsparteien eine
langfristige Wirkung haben oder nur kurze Strohfeuer sind, wird von der
Entwicklung in den nächsten Wochen und Monaten abhängig sein. Wenn
einzelne Maßnahmen wie die Ausgangsbeschränkungen oder Hilfeleistungen für
bestimmte Wirtschaftszweige nicht greifen oder verlängert werden müssen
oder das Gesundheitswesen kollabiert, dann kann sich das Blatt für die
Regierung ganz schnell wenden.
Langfristig sollten Bund und Länder ernsthaft darüber nachdenken, ob die
Kürzungen und Stellenstreichungen in Krankenhäusern und
Pflegeeinrichtungen sowie bei der Polizei und anderenorts politische
Fehler im Ökonomisierungswahn nahezu sämtlicher Bereiche waren und
zumindest teilweise revidiert werden müssen. Dem Polizisten, der
Altenpflegerin, dem Arzt oder der Krankenschwester hilft es nichts, wenn
in den sozialen Netzwerken dazu angerufen wird, sich gefühlt alle drei
Stunden auf den Balkon zu stellen und zu klatschen oder zu singen. Davon
kann sich niemand etwas kaufen, und davon verbessern sich die
Arbeitsbedingungen nicht. Hier besteht vor allem für die Zeit nach der
Corona-Pandemie erheblicher Handlungsbedarf für die Politik. Daran wird
sich langfristig auch die Bundesregierung messen lassen müssen.

Unterschiedliche Restriktionen in den einzelnen Bundesländern beim
Durchsetzen der Kontaktbeschränkungen, eine Debatte über Schleswig-
Holsteins Vorstoß beim Thema Abiturprüfungen – ist der Föderalismus in
Deutschland durch die Corona-Krise an seine Grenzen gestoßen?

In einem föderalen Staat sind politische Entscheidungsprozesse oft
komplexer und damit langwieriger und schwieriger als in Zentralstaaten wie
in Frankreich. Wenn der französische Staatspräsident Emmanuel Macron mit
seinem Ministerrat in Paris etwas beschließt, dann gilt das gleichermaßen
im ganzen Land. Insofern stößt der Föderalismus vor allem in Krisenzeiten
an seine Grenzen. Das heißt aber nicht, dass wir den Föderalismus
abschaffen sollten. Allerdings könnten bestimmte Aspekte verbessert
werden. Hinsichtlich der Abiturprüfungen, der Schulschließungen und der
Ausgangsbeschränkungen wäre es sinnvoll gewesen, wenn sich die
Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten auf eine gemeinsame Linie
verständigt und diese auch gemeinsam verfolgt hätten. Zeitweise wirkte es
wie eine Rückkehr in die Kleinstaaterei, wenn Mecklenburg-Vorpommern etwas
anderes als Brandenburg macht.
In föderalen Systemen ist eine Unitarisierung im Sinne von Absprachen auf
Augenhöhe anstatt von Verordnungen „von oben“ möglich und in manchen
Bereichen sinnvoll. Das gilt nicht nur für Krisenzeiten. Vor einigen
Jahren haben die Innenminister der Länder beschlossen, einen Musterentwurf
für die Landespolizeigesetze erarbeiten zu lassen. Dadurch kann die
Polizeipolitik harmonisiert werden, ohne dass die Landesregierungen ihre
Kompetenzen in dem Bereich abgeben müssten, denn die Innenministerien
bleiben weiterhin für die Landespolizeien verantwortlich. Ähnliches wäre
jetzt beispielsweise mit Blick auf die Abiturprüfungen sinnvoll, ohne
etwas Grundlegendes an der generellen Zuständigkeit der Länder für den
Kultusbereich zu ändern.