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Extreme Wetterereignisse wie Spätfrost, Trockenheit und Starkregen sind
mittlerweile „gefühlt“ an der Tagesordnung. Nach zwei Hitzesommern ist der
Boden noch nicht ausreichend feucht, um einen weiteren Hitzesommer zu
überstehen, Forstwirte befürchten Waldbrände, Landwirte Ernteausfälle.
Prof. Dr. Anke Jentsch hat die Professur für Störungsökologie an der
Universität Bayreuth inne und beschäftigt sich mit der Resilienz der
Natur. Sie sagt: "Gerade die Vielfalt an funktionellen Eigenschaften und
Strategietypen innerhalb einer Gemeinschaft wirkt wie eine hervorragende
Versicherung gegenüber Umweltschwankungen und extremen Wetterereignissen."
Im Interview erklärt sie, warum das so ist.

Hält die Natur den dritten Hitzesommer in Folge aus?

Bislang ist noch nicht abzusehen, wie sich dieser Sommer entwickeln wird.
Der Klimawandel in Mitteleuropa zeichnet sich gerade durch die zunehmende
Variabilität in Temperaturen und Niederschlägen aus. So kam es in den
letzten Jahren zu Wärmeeinbrüchen im Winter und extremer Trockenheit im
Sommer mit Temperaturen weit jenseits des langjährigen Mittels. Der
trockene Juni 2019 war der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen, wogegen
der wechselhafte Juni 2020 gerade mit ergiebigen Regenfällen und kühleren
Temperaturen Erholung von dem außergewöhnlich trockenen Frühjahr bietet.
Doch die Bodenwasserspeicher sind noch lange nicht aufgefüllt. Ein dritter
Hitzesommer wäre eine enorme Herausforderung für unsere Agrarproduktion
und für die großflächigen, monodominanten Wirtschaftswälder, nicht jedoch
für die arten- und strukturreichen Kulturlandschaften der Mittelgebirge
und des Voralpenlandes.

Warum verkraften artenreiche Landschaften extreme Wetterlagen besser?

Agrarlandschaften und Wirtschaftswälder sind auf hohen Ertrag getrimmt und
basieren auf einem reduzierten Spektrum von Pflanzenarten, welche unter
gewissen Bedingungen äußerst leistungsfähig sind. Vieler solcher Arten
sind jedoch besonders empfindlich gegenüber Störungen multipler Stressoren
wie Dürren und Starkregen, chemische Belastung, Pilze und rindenbewohnende
oder blattfressende Insekten. Artenreiche Gemeinschaften bestehen dagegen
aus einem Nebeneinander von wechselnden Leistungsträgern, wobei der
Beitrag von unbedeutend erscheinenden „Mitläufern“ oder „Underperformern“
von enormer Bedeutung sein kann, wenn die Rahmenbedingungen sich plötzlich
und wiederholt ändern. Wechselnde Konkurrenz-Hierarchien um die zur
Verfügung stehenden Ressourcen sowie unterschiedliche Toleranz gegenüber
Störungen spielen hier eine besondere Rolle. So wirkt gerade die Vielfalt
an funktionellen Eigenschaften und Strategietypen innerhalb einer
Gemeinschaft wie eine hervorragende Versicherung gegenüber
Umweltschwankungen und extremen Wetterereignissen.

Was bedeutet das konkret?

In artenreichen Wiesen gelten beispielsweise die Schmetterlingsblüter als
Schlüsselarten für die Produktion von Biomasse, da sie zusätzlich zu den
Bodenressourcen Stickstoff aus der Luft fixieren können. Allerdings
funktioniert dieser Mechanismus bei großer Trockenheit weniger gut, ihr
Beitrag zu Gemeinschaftsleistung sinkt rapide, andere Gräser und Kräuter
übernehmen dann. In unseren Experimenten geschieht da sogar ganz
Erstaunliches: Unter Extrembedingungen übertreffen manche Arten sich
selbst, wachsen stärker und höher als sonst, übernehmen geradezu die
Beiträge ihrer sonst so leistungsfähigen Partner. Dies geschieht, obwohl
bei Dürre alle Mitglieder der Pflanzengemeinschaft unter Wassermangel
leiden. Aber wir vermuten, dass diese Überkompensation durch die Befreiung
von Konkurrenzdruck möglich wird. Konkurrenz kann also stärker
einschränkend wirken als Ressourcenmangel. So geht mit Artenvielfalt eine
sich gegenseitig ergänzende Wirkung an funktionellen Eigenschaften in
Gemeinschaften einher, welche bei einem plötzlichen Wechsel von äußeren
Bedingungen den Erhalt von Leistung erst ermöglicht.

Erholung und Resilienz - Kann man Erkenntnisse aus der Natur auf die
Gesellschaft übertragen?

Da gibt es sehr spannende Parallelen. Als Störungsökologin untersuche ich
das Paradoxon von Störung und Stabilität in Ökosystemen. Es geht um das
Verständnis von Rhythmen, aber auch um die Mechanismen von Regeneration
nach Extremereignissen, um Gleichgewicht und bleibende Leistungsfähigkeit
trotz Störungen. Aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben
sich auch gesellschaftliche Fragen. Wie gehen wir mit den verfügbaren
Ressourcen um? Welche Rolle spielen Individuen in diversen Gemeinschaften?
Wie funktioniert das Leben an Extremstandorten oder angesichts multipler
Stressoren? Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass komplementäre
Eigenschaften unter den beteiligten Akteuren ein wichtiger Schlüssel sind
für die funktionelle Stabilität und schnelle Erholung nach
Extremereignissen.

Wie erforschen Sie das konkret?

Mit ungewöhnlichen Experimenten simulieren wir zukünftige
Extremereignisse. Beispielswiese erzeugen wir Jahrhundert-Dürren durch die
Konstruktion von Regendächern über natürlichen oder speziell angepflanzten
Wiesen, simulieren zunehmende Klimaerwärmung durch die Umsiedlung von
Pflanzengemeinschaften aus den kühl-feuchten Hochlagen der Alpen in die
wärmeren und trockeneren Tieflagen von Bayreuth, manipulieren Winter-
Wärmepulse und Frost-Auftauzyklen durch Infrarot-Lampen oder vergrabene
Heizkabel im Boden, erzeugen nächtliche Spätfrostereignisse, indem wir
Jungbäume über Nacht in angemietete Kühllaster stellen. Dann vermessen wir
beispielsweise die Widerstandsfähigkeit verschiedener Arten, erfassen
Blattschäden und Ertragseinbußen, quantifizieren die Veränderung von
Stoffflüssen und analysieren die Bedeutung von Herkunft, Plastizität und
Diversität von Lebensgemeinschaften für die Resilienz und
Ökosystemfunktionen. Wir kartieren das Vorkommen von Pflanzenarten und
vermessen ihre funktionellen Eigenschaften, wir vergleichen Wildnis- und
Kulturlandschaften, arbeiten mit Fernerkundlern und Modellierern zusammen.
Im Grunde arbeiten wir „glokal“.

Was ist „glokal“?

Global und lokal in einem. Wir untersuchen die lokalen Auswirkungen des
globalen Klimawandels, z.B. entlang von Höhengradienten in den Alpen oder
Niederschlagsgradienten innerhalb Europas. Dazu schließen wir uns in
globalen Netzwerken mit anderen Wissenschaftlern zusammen, führen in
verschiedenen Ländern und Kontinenten identische Experimente durch,
untersuchen und die lokalen Effekte und ordnen diese in den
Gesamtzusammenhang ein. Durch den globalen Vergleich lokaler Ergebnisse
können wir grundlegende, ökologische Mechanismen erkennen und zugleich die
sensibelsten Ökosysteme der Erde identifizieren. Hier ganz lokal an der
Uni Bayreuth engagiere ich mich bei den „Scientists for Future“, binde die
Studierenden in die experimentelle Forschung ein und wirke z.B. beim
Schülerforschungszentrum mit.  Bei Exkursionen und Bergwanderungen mit
Bayreuther Schülern zu schmelzenden Gletschern und zu den
Forschungsstationen der Glaziologen und Vegetationsökologen wird besonders
deutlich, dass lokales Handeln längst globale Folgen hat und umgekehrt!