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BERN - 04.05.2020 - Ausserordentliche Session von National- und Ständerat vom 4. bis 7. Mai 2020 in der Bernexpo.  Beatrice Devènes (Bern)  Bild: Parlamentsdienste 3003 Bern / Services du Parlement 3003 Berne / Servizi del Parlamento 3003 Berna, Beatrice Devènes
BERN - 04.05.2020 - Ausserordentliche Session von National- und Ständerat vom 4. bis 7. Mai 2020 in der Bernexpo. Beatrice Devènes (Bern) Bild: Parlamentsdienste 3003 Bern / Services du Parlement 3003 Berne / Servizi del Parlamento 3003 Berna, Beatrice Devènes

Zu Beginn der Coronakrise regierte der Bundesrat per Notrecht. Dennoch
liess die Landesregierung den Kantonen viel Spielraum und erwies sich als
flexibel und experimentierfreudig. Dies zeigt eine Analyse der Eidg.
Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Was lässt sich
daraus für andere gesellschaftliche Herausforderungen wie den Klimawandel
oder den Biodiversitätsverlust lernen?

Zu Beginn der Coronakrise wurde die Schweiz vier Monate lang per Notrecht
regiert - zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg für eine so lange
Zeit. Vom 16. März bis zum 19. Juni 2020 dauerte die ausserordentliche
Lage gemäss Epidemiengesetz, während der die Landesregierung alles
beschliessen durfte, was sie zur Eindämmung der Pandemie für notwendig
erachtete, ohne das Parlament oder die Bevölkerung zu fragen. Rund zwei
Dutzend Notverordnungen hat sie in dieser Zeit erlassen.

Wie ist der Bundesrat mit dieser unvergleichlichen Machtfülle umgegangen?
Wurden die Stimmen aller möglichen Betroffenen der Massnahmen gehört,
obwohl es keine offiziellen Vernehmlassungen gab? Und könnten Lehren für
andere Systemwechsel gezogen werden, die nötig sein werden, um
Herausforderungen wie dem Klimawandel oder Mobilitätsengpässen zu
begegnen? Forschende der WSL haben in einer Analyse im Journal
«Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie» untersucht, wie die
Entscheidungsprozesse in Regierung und Verwaltung während der
ausserordentlichen Lage abgelaufen sind.

Ausnahmeregelungen für Kantone mit besonderen Bedürfnissen

Dabei fiel ihnen vor allem eines auf: «Es hat sich gezeigt, wie robust die
föderalistischen Strukturen der Schweiz sind», erklärt Yasmine Willi,
Hauptautorin und Postdoc in der WSL-Forschungsgruppe Regionalökonomie und
-entwicklung. Zum Beispiel hatte der von Covid-19 besonders stark
betroffene Kanton Tessin beschlossen, die Baustellen zu schliessen und war
damit deutlich weitergegangen, als es die Bundesverordnung vorsah. Obwohl
das Tessin damit gegen geltendes Recht verstoss, liess der Bundesrat den
Kanton gewähren – und legitimierte dessen Vorgehen im Nachhinein durch
eine Anpassung der Verordnung.

«Die gewohnten föderalistischen Prozesse wurden weitergeführt», sagt
Willi. «Denn trotz geltendem Notrecht lag die Umsetzung der politischen
Massnahmen, die vom Bundesrat verfasst wurden, letztendlich bei den
Kantonen.» Die Beständigkeit des Föderalismus ist umso bemerkenswerter,
als dass demokratische Prozesse zeitweise zurückgestellt wurden, indem das
gewählte Parlament sich selbst entmachtete und die Session sowie
Volksabstimmungen verschob.

Politische Entscheidungen in sich wandelnden Zeiten

Bei Krisen ändert sich die Lage rasch und Entscheidungen müssen gefällt
werden, ohne deren Auswirkungen genau zu kennen. Dies zwingt Regierung und
Verwaltung, ihre Entscheidungen laufend zu überprüfen und anzupassen, zum
Beispiel an Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Die laufend angepasste
Politikgestaltung durch Regierung und Verwaltung bei tiefgreifenden
gesellschaftlichen Veränderungen wird als «Transformative Governance»
bezeichnet.

Die Bewältigung der Coronakrise weist laut den Autorinnen und Autoren der
Analyse die typischen Merkmale hierfür auf: Entscheidungen werden unter
Unsicherheit getroffen, unterschiedliche Perspektiven werden
miteinbezogen, reflexives Lernen und das Experimentieren mit Lösungen
bestimmen die Entscheidungsfindung. «In akuten Krisenzeiten stützt sich
die Politik stärker auf wissenschaftliche Erkenntnisse ab als in
gewöhnlichen Zeiten», erklärt Willi. Bei Corona setzten die Fallzahlen der
Virologen und Epidemiologen die Leitplanken für die Erlasse des
Bundesrates.

Charakteristisch ist auch die schrittweise Verschärfung der Massnahmen,
die das öffentliche Leben lahmlegten. Die Schliessungen von Grenzen,
Geschäften und Schulen bedeuteten drastische Eingriffe in die Grundrechte
der Bevölkerung, gleichzeitig konnte die Landesregierung nicht wissen,
welche Massnahme wie gut wirken würde. Daher setzte sie für jeden Schritt
klare Fristen – auch für die anschliessenden Lockerungen –, die dann je
nach Entwicklung der Infektionszahlen verlängert oder verkürzt wurden.

Wandel auch ohne umfassendes Wissen

Besonders interessiert sind Yasmine Willi und ihre Kollegen daran, was
nach der Coronakrise geschehen wird: Werden sich bestimmte
umweltschädliche Praktiken langfristig ändern, denen das Virus kurzfristig
einen Riegel vorschob, wie beispielsweise Flugreisen oder Überkonsum?
Werden gesellschaftliche Trends hin zu mehr digitalen Treffen und weniger
Konsum erhalten bleiben? «Nur wenn es gelingt, das Konsumverhalten, die
Produktion von Gütern und die Ressourcennutzung langfristig zu verändern,
kann die gegenwärtige Krise eine Chance für einen nachhaltigen
gesellschaftlichen Wandel sein», erklärt Willi. Beispielsweise könnten
Zuschüsse, die Unternehmen aufgrund der Pandemie bekommen, an Kriterien
zum Klimaschutz geknüpft werden, oder die finanzielle Entlastung
betroffener Haushalte könnte soziale Ungleichheiten abmildern.

Die Coronakrise hat gezeigt, dass gesellschaftliche Anpassungen trotz
grosser Unsicherheiten schnell geschehen können. Einschneidende
Entscheidungen wurden rasch getroffen und konsequent umgesetzt, obwohl
deren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft unklar waren. «Im
Unterschied zur Corona-Pandemie wissen wir viel mehr über Umweltkrisen wie
Klimawandel oder Biodiversitätsverlust, handeln aber trotzdem weniger
entschlossen», kritisiert Willi.

Entschlossenes Handeln – das macht die Coronakrise deutlich – ist jedoch
wichtiger als «perfektes» Handeln. So auch beim Klimawandel. Auch hier
wäre ein flexibles und experimentelles Vorgehen denkbar. Langfristige
Klimaziele wie z.B. Netto-Null Emissionen bis 2050 liessen sich durch
jährliche Reduktionsziele ergänzen, die dazu nötigen Massnahmen würden
jedes Jahr überprüft und, falls nötig, angepasst. Auf diese Weise könnte
die Klimakrise trotz bestehender Unsicherheiten besser bewältigt werden.

Originalpublikation:
Willi Y, Nischik G, Braunschweiger D, Pütz M (2020): Responding to the
Covid-19 Crisis: Transformative Governance in Switzerland. Tijdschrift
voor Economische en Sociale Geografie, 111 (3). Abrufbar unter:
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/tesg.12439