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Die Epidemie habe in den vergangenen zwei Wochen eine neue Dynamik
entwickelt, sagt Prof. Dr. Markus Scholz vom Institut für Medizinische
Informatik, Statistik und Epidemiologie der Medizinischen Fakultät der
Universität Leipzig. Neben einzelnen Schulschließungen entwickeln sich
immer wieder lokale Hotspots. Welche Gegenmaßnahmen dann einzuleiten sind
und wie eine zweite Infektionswelle aussehen könnte, hat Scholz mit seinem
Team in einem eigenen epidemiologischen Modell analysiert.

Herr Professor Scholz, einige Landkreise und Städte überschreiten den
Grenzwert von 50 Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 pro 100.000 Einwohner pro
Woche. Sie haben neue Erkenntnisse zur Anwendung dieses Grenzwerts aus
Ihren Modellen gewonnen. Welche sind das, auch bezogen auf die lokalen
Ausbrüche aktuell?

Wir haben die Regelung, die inzwischen auch Gesetzeskraft hinsichtlich
flächendeckender Testungen in einzelnen Kreisen hat, mit Hilfe von
Modellen näher analysiert. Dabei zeigte sich, dass es entscheidend ist,
mit welcher Dynamik diese 50er-Schwelle durchbrochen wird. Erreicht man
sie allmählich, ist es problematisch. Steigt der Wert jedoch sprunghaft
über die Grenze, wie jetzt in Gütersloh geschehen, können wir davon
ausgehen, dass die Epidemie vor Ort schon eine Weile unentdeckt
fortgeschritten ist. Die Situation ist dann deutlich gefährlicher. In
Gütersloh wurde die Schwelle mit einem hohen R-Wert überschritten. Zudem
zeichnet sich durch die flächendeckenden Testungen ab, dass die Epidemie
bereits in die Bevölkerung eingetragen wurde. Ein Lockdown ist dann
zumindest in den betroffenen Kreisen wieder zwingend erforderlich. Dieser
sollte möglichst schnell und umfassend erfolgen, um eine weitere
Verbreitung über die betroffenen Kreise hinaus noch zu vermeiden. Dies
bedeutet explizit auch Reiseeinschränkungen in beide Richtungen, also die
Ein- und Ausreise in den Hotspot.

Woran erkennen wir eigentlich, dass sich eine zweite Welle anbahnt? Was
sagen Ihre Modelle voraus?

Unser neues Bulletin zeigt, dass die Reproduktionszahlen Ende Juni
deutlich über 1 lagen, sowohl für Deutschland als auch für Sachsen und
andere Bundesländer. Wenn solche Trends über längere Zeit bestehen, kann
die Situation außer Kontrolle geraten und eine zweite Welle entstehen, wie
aktuell zum Beispiel in Israel und den USA. Inzwischen schätzen wir diese
Werte aber wieder unter 1, sodass wir aktuell noch nicht mit einer zweiten
Welle rechnen. (Stand 29. Juni: Deutschland R=0.89 (95%-Konfidenzintervall
0.86-0.91), Sachsen R=0.52 (95%-Konfidenzintervall 0.38-0.67))

Es kommt auch in Zukunft darauf an, ob verhindert werden kann, dass lokale
Ausbrüche großflächig in die Bevölkerung getragen werden. Die Situation
ist diesbezüglich als deutlich fragiler einzuschätzen als noch vor einigen
Wochen. So steigen auch in Leipzig aktuell wieder die Zahlen, nachdem hier
über fast vier Wochen praktisch keine Fälle mehr auftraten. Dies bestätigt
unsere Modellvorhersage, nach der kein wesentlicher Spielraum für weitere
Lockerungen mehr besteht.

Zusammen mit Wissenschaftlern der Charité hat Ihr Institut kürzlich den
Zuschlag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für das Projekt
PROVID zur Erforschung des Schwereverlaufs bei Covid-19 eingeworben. Worum
geht es da?

Diese Untersuchung baut auf der PROGRESS-Studie auf, die wir seit 15
Jahren mit betreuen. Hier beobachten wir Patienten, die wegen einer
Lungenentzündung hospitalisiert werden, engmaschig und longitudinal. Diese
Abläufe übertragen wir im Projekt PROVID nun auf COVID-19-Patienten, die
im Krankenhaus behandelt werden müssen. Wir können sofort starten, da wird
die bestehende Infrastruktur auf die neue Studie übertragen können. In
circa zehn PROGRESS-Zentren begleiten wir diese Patienten und erfassen
molekulare Faktoren und Vitalparameter im Zeitverlauf. Daraus wollen wir
Faktoren identifizieren, die vorhersagen, wie schwer die Krankheit
verläuft. Ziel ist eine Vorhersage des Verlaufs aufgrund von neuen
Biomarkern. Wir erhoffen uns zudem weitere Erkenntnisse über die
molekularen Mechanismen der Erkrankung: Wie kommt es zum Lungenversagen?
Wie stark sind weitere Organe involviert? Unser Institut ist in der Studie
das Datenzentrum, wir bereiten die Daten auf, halten die Datenbank vor,
schulen die Zentren, verfolgen die Probenflüsse und führen Analysen der
klinischen und molekularen Daten durch.