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"St. Sebastian betet für die Pestopfer" - künstlerische Sichtbarmachung von Seuchen Josse Lieferinxe (1483-1508) The Walters Art Museum (CC0 1.0)

Wie Kunst und Literatur das Unsichtbare von Epidemien sichtbar machen –
Von „kleinen Tierchen“ und Pestbeulen, Beerdigungen und Behördenversagen:
Beispiele von der Antike bis heute – Web-Dossier „Epidemien.
Kulturwissenschaftliche Ansichten“ des Exzellenzclusters

Die Angst vor dem unsichtbaren Virus hat in Epidemien vom Altertum bis
heute in Kunst und Literatur zu vielen Versuchen des Sichtbarmachens
geführt. „Das Unsichtbare, das man nicht riechen, schmecken oder anfassen
kann, verunsichert zutiefst. Es schafft eine soziale Atmosphäre des
Misstrauens“, schreiben Forscherinnen und Forscher des Exzellenzclusters
„Religion und Politik“ im Web-Dossier Epidemien. Kulturwissenschaftliche
Ansichten. Sie zeichnen nach, welche Bilder und Vergleiche Schriftsteller,
Maler und Geschichtsschreiber verschiedener Epochen und Regionen schufen,
um das Unvorstellbare greifbar zu machen – auch dann noch, als der
Bakteriologe Robert Koch (1843-1910) Krankheitserreger sichtbar zu machen
vermochte. Wo heute Bilder von Militärkonvois und Särgen aus Bergamo oder
Leichensäcken aus New York zum Sinnbild der Pandemie wurden – mehr als das
gezackte Corona-Modell – stellten antike Schreiber wie Thukydides und
Prokop oder Renaissance-Maler den Schrecken der Pest etwa in zahllos
aufgestapelten Toten dar, um das Unfassbare zu erfassen. „Der Drang, dem
Unsichtbaren eine Gestalt zu geben, begleitet die Menschheit, seitdem
Epidemien ihren Lebensraum bedrohen.“

Medizin und Kunst beschreiben die Krankheitserreger lange Zeit als
„winzige Wesen“, wie die Autorinnen und Autoren des Web-Dossiers, das die
Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf initiiert
hat, ausführen. Medizinhistorikerin Katharina Wolff zeichnet in ihrem
Beitrag den Weg der Medizingeschichte von der Antike bis heute nach, in
der verschiedenste Theorien über das verborgene Krankheitsgeschehen
entstanden – mit Erklärungen von Miasmen über Pestwürmer bis zu anderen
„lebenden Tierchen“ –, bis die moderne Labordiagnostik das Unsichtbare
technisch wahrnehmbar machte. Auch in der Literatur ist von winzigen Wesen
die Rede: Wagner-Egelhaaf entdeckt sie etwa im Roman „Die Jakobsbücher“
(2014) der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, in dem das
unsichtbare Virus als „winziges Wesen im Nebel“ aufsteigt – und so in
seiner Unsichtbarkeit zu sehen ist.

Ansteckung mit dem Virus durch starke Affekte

Eine literarische Visualisierung der Pest findet sich auch in Giovanni
Boccaccios „Dekameron“, wie Romanistin PD Dr. Pia Doering darlegt.
Drastisch beschreibt der Autor die Pestbeulen und schwarzen Flecken der
Kranken, Zeichen des nahenden Todes, und den Gestank der Leichen. Wie in
der antiken Geschichtsschreibung, die Historiker Matthias Sandberg im
Dossier untersucht, wird auch bei Boccaccio Politisches sichtbar: die
Zerrüttung der sozialen Ordnung und das Behördenversagen. Um es zu
verschleiern, sollen nämlich Beerdigungen und Gräber geheim bleiben –
Unsichtbarkeit um der öffentlichen Ordnung willen. Die Kunst der
Renaissance und des Barrock wiederum setzt ins Bild, was Ärzte,
Philosophen, Literaten und Geistliche lange über die Pest glaubten, so
Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-Bettina Krems: dass die Seuche durch
starke Affekte verstärkt würde. Schon ein großer Schreck könne zur
Ansteckung führen, ebenso die Träume. Künstler stellten daher Heilige dar,
die ihre Affekte sichtlich im Zaum halten konnten, und erhoben sie zum
moralischen Vorbild. Zur irdischen Sphäre tritt in der künstlerischen
Pest-Darstellung die himmlische hinzu, wie Kunsthistoriker Prof. Dr. Jens
Niebaum an Altarbildern der Renaissance aufzeigt. Fürbitte und göttliche
Erhörung werden in diesem vormodernen Deutungsmodell zur Möglichkeit, ein
Ende der Epidemie herbeizuführen.

Unsichtbarkeit verschärft soziales und politisches Misstrauen

Bedrohung und Schrecken sind fast allen künstlerischen Seuchen-
Darstellungen eingeschrieben, wie die Autorinnen und Autoren in ihren
Beiträgen aufzeigen. Ethnologin Prof. Dr. Dorothea Schulz legt in ihrem
Beitrag „Die unmerkliche Bedrohung“ am Beispiel der aktuellen Lage in
afrikanischen Ländern wie Mali dar, wie sehr Bedrohungsgefühle auf die
Unsichtbarkeit und Unfassbarkeit des Virus zurückzuführen seien. „Die
Uneindeutigkeit körperlicher Zeichen, die eine Ansteckung durch das
Coronavirus belegen, verstärkt bei vielen Menschen das Gefühl, jederzeit,
von überall und von jedem bedroht zu sein.“ Das Ergebnis sei eine
spannungsgeladene atmosphärische Mischung aus sozialer Angst und teils
Weigerung, die Existenz und Bedrohlichkeit des Virus anzuerkennen. „So
führt die Unlesbarkeit von Corona dazu, bestehendes soziales und
politisches Misstrauen zu verschärfen.“

Aktuelle Bilder der Wissenschaft erzeugen Nachvollziehbarkeit und
Glaubwürdigkeit, wie die Forscher in ihrer Einleitung schreiben: „Die
globale Verbreitung des Corona-Virus macht uns zu Konsumenten räumlicher
Datenanalysen und Location-Intelligence-Tools. Interaktive Karten und
Charts brechen die Komplexität des Virus und seiner Folgen herunter. Und
doch herrscht große Verunsicherung. Die Nicht-Wahrnehmbarkeit verstärkt
eine Atmosphäre der sozialen Bedrohung und des Misstrauens.
Kriegsmetaphern werden bemüht, um dem unsichtbaren Feind den Kampf
anzusagen.“ Das Dossier-Kapitel trägt den Titel (Un-)Sichtbarkeit. Oder:
Visualisierung und Wahrnehmung einer unsichtbaren Bedrohung. Das Web-
Dossier Epidemien. Kulturwissenschaftlichen Ansichten enthält zwei weitere
Kapitel zu den Themen Zeit (oder: „Nach der Krise ist vor der Krise“) und
Raum (oder: „Abstand und Ausbreitung“).

Die Arbeiten gehen aus einer Arbeitsgruppe des Exzellenzclusters zu
„Epidemien in Geschichte und Gegenwart hervor“. Ein weiteres Web-Dossier
Religion und Verschwörungstheorien in Zeiten der Corona-Epidemie
versammelt aktuelle geistes- und sozialwissenschaftliche Beiträge über
religiöse Deutungen von Epidemien, den individuellen Umgang mit der
Corona-Krise sowie Verschwörungstheorien in Konkurrenz zu Religion und
Wissenschaft. (vvm/maz)