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Walter Zimmer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Providentia++  Sebastian Kissel / TUM
Walter Zimmer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Providentia++ Sebastian Kissel / TUM

Ein Team der Technischen Universität München (TUM) hat in den Projekten
Providentia und Providentia++ vielbefahrene Straßen mit modernster
Sensortechnik ausgestattet. Mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) werden
die Daten zu einem digitalen Zwilling verarbeitet, der ein Abbild der
realen Verkehrssituation darstellt. Projektleiter Alois Knoll, Professor
für Robotik, Künstliche Intelligenz und Echtzeitsysteme, erläutert im
Interview die Vision dahinter – und was getan werden muss, um beim Thema
digitale Mobilität zukunftsfähig zu bleiben.

Herr Prof. Knoll, im Forschungsprojekt Providentia hat Ihr Team einen
Abschnitt der A9 bei München mit Radarsystemen und Kameras ausgestattet,
im aktuellen Nachfolgeprojekt Providentia++ eine vielbefahrene Kreuzung im
Ortsgebiet Garching-Hochbrück. Inwiefern trägt das zum Verkehr von Morgen
bei?

Die Sensoren, die auf Schilderbrücken und Masten in etwa zehn Metern Höhe
angebracht sind, liefern von dort oben einen sehr guten Überblick über das
aktuelle Geschehen auf der Straße. Dabei erfassen sie die genauen
Positions- und Geschwindigkeitsdaten jedes Verkehrsteilnehmers. Eine KI
klassifiziert die Objekte und stellt dann anhand dieser Daten einen
digitalen Zwilling her, also ein virtuelles Abbild des realen
Verkehrsgeschehens.

Kommt es zu einem sicherheitskritischen Vorfall wie etwa einem plötzlichen
Unfall oder Stau, kann diese Information in Echtzeit an jedes vernetzte
Fahrzeug übermittelt werden. So können gefährliche Situationen im Voraus
erkannt und Fahrzeuge rechtzeitig gewarnt werden. Auch der Verkehrsfluss
kann verbessert werden, indem die Technologie beispielsweise die optimale
Spur für ein besseres Vorankommen empfiehlt. Deswegen auch der Name:
Providentia ist die römische Göttin der Vorsehung. Zum anderen steht der
Name für Proaktive Videobasierte Nutzung von
Telekommunikationstechnologien in innovativen Autoverkehr-Szenarien.

Das klingt tatsächlich nach einem großen Mehrwert, eigentlich auch für
Fahrerinnen und Fahrer nicht autonomer Fahrzeuge.

Das stimmt, zum Beispiel, wenn man die Informationen des digitalen
Zwillings so leitet, dass die-se direkt per 5G Netz im Smartphone ankommen
– und das hat ja heute fast jeder an seiner Windschutzscheibe hängen.
Möglich wäre auch, dass man die Infos in das Navigationssystem der
Fahrzeuge einspeist und dieses dann akustische und virtuelle Warnsignale
abgibt. Im Falle eines voll autonom fahrenden Fahrzeugs der Stufe fünf
wäre es zudem möglich, dass die Technik direkt eingreift, indem das
Fahrzeug in einer kritischen Situation automatisch abbremst oder
ausweicht.

Was aber passiert, wenn ein Fehler auftritt und das System plötzlich
aussetzt ?

Hier muss zwischen Ausfall der Fremdsteuerung und böswilliger
Fehlsteuerung unterschieden werden. Ersteres kann und muss jedes autonom
fahrende Fahrzeug tolerieren, das heißt, es muss in jedem Fall eine
Eigenintelligenz besitzen, sodass es gefahrlos bremsen oder zum Stehen
kommen kann. Bei einem böswilligen Eingriff von außen durch Hacker oder
ähnliches sollte das Fahrzeug in der Lage sein, zu überprüfen, ob die
Informationen, die es erhält, tatsächlich zum Verkehrsgeschehen passen.
Durch die hochsichere Verschlüsselung der Daten und die Sicherung der
Systemzugangspunkte sollte ein Eingriff von außen aber gar nicht erst
möglich sein.

Was sagen Sie Menschen, die Angst vor Überwachung haben? Die Daten der auf
der Straße fahrenden Autos werden schließlich aufgezeichnet und
verarbeitet.

Unsere Forschung folgt zu jeder Zeit der Datenschutz-Grundverordnung,
sensible Daten wie Kennzeichen der Autos werden nicht aufgezeichnet. Auch
Gesichter von Fahrzeug-Insassen sind auf unseren Aufnahmen nie zu
erkennen, obwohl theoretisch die Möglichkeit dazu besteht. Ich möchte
betonen: Die Vorteile, die wir durch Providentia bereitstellen können,
überwiegen die unwahrscheinlichen Risiken eines Daten-Missbrauchs. In
Deutschland kommen jährlich tausende Menschen bei Verkehrsunfällen um oder
verletzten sich schwer. Diese Zahlen könnten wir senken! Ich bin
überzeugt: Die Straße der Zukunft muss digital sein. Damit erreichen wir
mehr Sicherheit, mehr Transparenz sowie mehr Optimierung und Komfort.

Wie könnte der Weg hin zu einer digitalen Straße aussehen?

Zunächst hat die TUM in Ottobrunn seit kurzem ein Testfeld, auf dem wir
weitere Erfahrungen zur direkten Kopplung von Infrastruktur mit Fahrzeugen
sammeln können. Es ist allerdings not-wendig, dass wir baldmöglichst
hinaus auf die Straße kommen. Nur so lernen wir, wie man zu-verlässige
Systeme unter realen Bedingungen und mit realen Passagieren betreiben
kann. Mein Vorschlag wäre die Einrichtung eines autonomen Shuttles
zwischen Garching-Forschungszentrum und Garching-Hochbrück. Ich denke an
einen Shuttle, der nicht nur mit 20 km/h dahinkriecht, sondern ganz normal
im Verkehr mitfließt. Ich finde, man muss auch mal was wagen, wenn die
Forschung überhaupt einen Sinn haben soll. Um das zu erreichen ist eine
adäquate Unterstützung der Infrastruktur durch Sicherheitssysteme wie
Providentia++ sinnvoll. Letztlich wollen wir ja so viele Lebensbereiche
wie möglich automatisieren, allen voran den öffentlichen Nahverkehr. Das
wird nur mit einer leistungsstarken, digitalen Infrastruktur wie sie
Providentia++ im kleinsten Maßstab geschaffen hat, möglich sein.

Welchen Wunsch haben Sie an die Politik?

Man sollte viel stärker in den Bereich digitale Mobilität investieren und
diese Vision Schritt für Schritt umsetzen. In München, der Stauhauptstadt
Deutschlands, sehe ich einfach zu wenig Fortschritt. Wir haben ein
Nahverkehrssystem, das an die Grenzen seiner Kapazität stößt,
unzuverlässig und nicht gerade up-to-date ist. Wenn München die
Technologiehauptstadt Europas sein soll, dann sollte es auch möglich sein,
ein vernünftiges, IT-basiertes und intelligent gesteuertes
Nahverkehrssystem aus unterschiedlichsten Vehikel-Typen einzurichten, das
mit dem Individualverkehr über ein “City-Brain“ verknüpft ist und dafür
sorgt, dass bei Minimierung von Energieverbrauch und Emissionen ein
Maximum an Komfort erzielt wird und dabei obendrein verspricht, dass ein
Passagier garantiert nicht schneller von A nach B kommen kann, als von
diesem System vorgeschlagen und angeboten.

Wie sehen die nächsten Schritte aus?

Wir sind mit unserer Technologie so weit, dass wir daraus ein in der
Praxis einsetzbares System entwickeln können. Das müsste dann natürlich
die Industrie aufgreifen, die TUM selbst ist ja kein Hersteller
verkehrstechnischer Infrastruktur. Dann bräuchte man staatliche Programme,
um zumindest an neuralgischen Punkten größere Sensor-Installationen
vorzunehmen, in München wäre etwa der mittlere Ring vorstellbar. Hier
kommt es während der Rush Hour täglich zu immensen und nervenaufreibenden
Staus – Providentia könnte den Verkehrsfluss optimieren, weil es unter
anderem die Wellenbewegungen berechnen kann. Um das umzusetzen, müssten
aber die Städte bzw. der Staat insgesamt gezielt ihre Nachfragemacht
einsetzen, um einen Strukturwandel einzuleiten – so wie es vor langer Zeit
mit dem Straßen-, Eisenbahn- und Autobahnbau, und der „autogerechten
Stadt“ auch geschah. Jetzt haben wir mit der Informationstechnik riesige
Möglichkeiten, die Städte wieder menschengerecht zu machen und dabei ganz
neue Industrien zu schaffen. Sie sehen, wir haben noch viel vor. Aber wir
müssen es auch machen.

Mehr Informationen:

•       Providentia ist ein Forschungsprojekt, das seit Anfang 2017 vom
Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) gefördert
und seit Anfang 2020 vom Lehrstuhl für Robotik, künstliche Intelligenz und
Echtzeitsysteme am Institut für Informatik der Technischen Universität
München als Konsortialführer unter dem Namen Providentia++ fortgesetzt
wird. Dessen Ziel besteht darin, Informationsflüsse zwischen Fahrzeugen
und Infrastruktur am Rande der Autobahn A9 bis hinein in den urbanen
Bereich zu erforschen, einen digitalen Zwilling der aktuellen
Verkehrssituation zu schaffen und daraus Mehrwertdienste zu entwickeln.
Website: https://innovation-mobility.com/

•       An der TUM wird in diversen Projekten zum Thema autonomes Fahren
geforscht. Der Lehrstuhl für Robotik, Künstliche Intelligenz und
Echtzeitsysteme arbeitet dabei eng zusammen mit Markus Lienkamp, Professor
für Fahrzeugtechnik, Klaus Bogenberger, Professor für Verkehrstechnik und
Jörg Ott, Professor für Connected Mobility.

•       Die Technische Universität München (TUM) und die Industrieanlagen-
Betriebsgesellschaft mbH (IABG) haben im September in Ottobrunn ein neues
Testfeld für intelligente Mobilitätskonzepte in Betrieb genommen (vgl.
https://www.tum.de/die-tum/aktuelles/pressemitteilungen/details/36906).
Auf der vom Bayerischen Verkehrsministerium geförderten Versuchsanlage
erforschen sie das Zusammenwirken zukünftiger, autonomer Verkehrssysteme
sowie deren sicheren und standardisierten Betrieb.