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Es dominiert: Durch die Pandemie gibt es wohl kein anderes Thema, welches
gerade derart im Fokus steht, wie Corona selbst und dessen Auswirkungen.
Zum Vertrauen und Misstrauen in das Gesundheitssystem hat nun der
Wissenschaftsredakteur und Mediziner Dr. Bernhard Albrecht bei der vierten
„vechtaer trust lecture“ gesprochen. Dabei wurde deutlich, wie Politik,
Gesellschaft und Wissenschaft zusammenarbeiten können, um Verlorenes
wiederzuentdecken.

Die Forschung mache „evident, dass das Vertrauen in das medizinische
Personal mit vielen positiven Konsequenzen für den Erfolg therapeutischer
Maßnahmen einhergeht“, sagt Prof. Dr. Martin K. W. Schweer nach der
Begrüßung durch die neue Präsidentin der Universität Vechta, Prof.in Dr.in
Verena Pietzner. Aber: „Vertrauen ist keineswegs ein Automatismus, im
Gegenteil, es ist ein sehr sensibles Gut, das nicht zuletzt signifikant
von den konkreten Rahmenbedingungen beeinflusst wird!“, verdeutlicht der
Initiator der Veranstaltung und Leiter des Zentrums für
Vertrauensforschung an der Hochschule. Und wenn von Vertrauen und
Misstrauen im Gesundheitssystem gesprochen werde, so seien auch die
Zustände in Kliniken zu fokussieren. Schwierige Arbeitsbedingungen, hoher
ökonomischen Druck und notwendige Veränderungen zum Patientenwohl seien
Teil davon. Die Corona-Krise selbst mache es mehr als deutlich: „Ohne
Vertrauen kann die erforderliche Solidarität in der Gesellschaft nicht
erreicht werden, auf die wir – und dies sei betont – momentan sicherlich
mehrheitlich zählen können“, sagt der Professor für Pädagogische
Psychologie. „Einer Minderheit hingegen fehlt offenbar dieses Vertrauen.“

Deutschland sei im Vergleich zu andern Ländern gut durch die Krise
gekommen, sagt Dr. Bernhard Albrecht. Doch mit einer Chronologie der
Verunsicherung zeigt er die mögliche Entstehung für das Misstrauen der
Gesellschaft in das Gesundheitssystem auf: Von beispielsweise anfänglichen
Statements im Januar 2020, dass das Tragen eines Mundschutzes nicht
notwendig sei, über zunächst angekündigte und dann zwischenzeitlich nicht
ausgezahlte Prämien für Pflegepersonal bis hin zu den sogenannten
„Maskendeals“ bei Abgeordneten. Auch die Ankündigung, dass es keine
allgemeine Impfflicht geben werde und undurchsichtige Corona-Regelungen
führt er an. Zu den Treibern des Vertrauensverlusts zählt Albrecht somit
„überforderte Behörden, widersprüchliche Kommunikation, raffgierige
Politiker*innen, alleingelassene Pflegekräfte, Profitmaximierung der
Krankenhäuser sowie die Fragmentierung der Gesundheitspolitik“.
Zurückgewonnen werden könne Vertrauen in das Gesundheitssystem, welches
seiner Meinung nach auch bereits vor der Pandemie schwand, durch eine
offene Kommunikation. Ergänzung findet das Vorgehen durch eine
Digitalisierung und Zentralisierung des öffentlichen Gesundheitswesens
sowie einen Umbau des Gesundheitssystems: „Das Ziel muss eine stärkere
Gemeinwohlorientierung sein“, sagt Albrecht. Hierfür gebe es in
Deutschland auch schon Beispiele, wie die Poliklinik Veddel in Hamburg. An
drei Standorten werde eine allgemeinärztliche Versorgung angeboten;
darüber hinaus aber auch eine Sozial- und Gesundheitsberatung sowie eine
psychologische Beratung. Durch eine kontinuierliche Gemeinwesenarbeit in
Form von Präventionsprojekten werde hier versucht, Gesundheitsproblemen
auch kollektiv zu begegnen. So besuchen etwa Fachkräfte Bewohnerinnen und
Bewohner des Stadtteils, um Gesundheitsgefährdungen vorzubeugen. Und bei
solchen Projekten kann wiederum Wissenschaft – wie die Vertrauensforschung
ansetzen – sind sich Teilnehmende der „vechtaer trust lecture“ sicher: Die
Wirksamkeit der konkreten Maßnahmen könnte beispielsweise untersucht
werden, um Empfehlungen für die Politik auszusprechen. Denn Vertrauen
lässt sich wiedergewinnen.

„vechtaer trust lectures“
Mit der im Sommersemester 2019 gestarteten Vortragsreihe „vechtaer trust
lectures“ sucht das Zentrum für Vertrauensforschung der Universität Vechta
gezielt den Dialog mit der breiten Öffentlichkeit, um den so wichtigen
Erfahrungsaustausch zwischen Wissenschaft und Praxis voranzutreiben. Im
Rahmen der Veranstaltung werden die Phänomene „Vertrauen“ und „Misstrauen“
aus diversen Blickwinkeln ausgewiesener Persönlichkeiten betrachtet:
Während Weihbischof Theising als erster Gastredner einen persönlichen
Einblick in sein Verständnis von Gottvertrauen gab, beleuchtete
nachfolgend Dr. Henning Scherf das Phänomen „Vertrauen“ im Kontext einer
alternden Gesellschaft und die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der
Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, das „Vertrauen und Misstrauen im
Kontext von Antisemitismus“. Die kommende „vechtaer trust lecture no.5“
wird das Themenfeld „Vertrauen in die Politik“ aufgreifen. Eine Zusage des
ehemaligen Bundesministers für besondere Aufgaben, Chef des
Bundeskanzleramtes, Bundesministers des Innern und Vizepräsidenten des
Deutschen Bundestages Rudolf Seiters liegt vor.

Dr. Bernhard Albrecht
Er arbeitete nach seinem Studium zunächst als Arzt in der Neurologie und
Psychiatrie und absolvierte anschließend die Evangelische
Journalistenschule in Berlin. Albrecht war unter anderem für das
Pro7-Wissensmagazin „Galileo“ sowie als freier Autor und Regisseur tätig,
2013 begann er als Reporter beim „stern“. Mehrfach wurden seine Arbeiten
ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis, dem Deutschen
Reporterpreis und dem Georg von Holtzbrinck-Preis für
Wissenschaftsjournalismus. Im Jahr 2019 veröffentlichte Albrecht im Rahmen
der stern-Titelgeschichte „Mensch vor Profit“ den viel beachteten
Ärzteappell, in dem 75 Organisationen aus dem Gesundheitswesen und mehr
als 2.800 namentliche Unterstützerinnen und Unterstützer eine Abkehr vom
Profitdenken im Gesundheitssystem forderten. Anfang 2021 folgte die
Bundestagspetition „Pflege braucht Würde“, die mehr als 350.000 Menschen
mitzeichneten. Albrecht wurde im Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages angehört.