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Das Bundesverfassungsgericht hat bei seiner aktuellen Triage-Entscheidung
eine Stellungnahme des Bochumer Zentrums für Disability Studies  (BODYS)
aufgegriffen. BODYS ist eine Forschungseinrichtung der Evangelischen
Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.

Für große Erleichterung hatte unlängst die Triage-Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts insbesondere bei behinderten Menschen gesorgt:
In seinem Beschluss vom 16. Dezember 2021 fordert der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts den deutschen Gesetzgeber auf, unverzüglich
Maßnahmen zu ergreifen, die behinderte Menschen für den Fall einer
pandemiebedingt auftretenden Triage vor Diskriminierung gesetzlich
schützen.

Das breite mediale Echo auf den Beschluss hat aber auch gezeigt: Das Thema
Triage ist keineswegs nur eine medizinische, sondern in erster Linie eine
ethische, juristische und soziale Frage. Es bedarf daher einer
gesamtgesellschaftlichen Debatte, die der Umsetzung des Beschlusses durch
den Gesetzgeber vorausgeht.

Einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte lieferte die Online-Diskussion
„Triage-Situationen diskriminierungsfrei gestalten“ am 17. Januar 2022,
veranstaltet vom Landesbehindertenbeauftragten der Freien Hansestadt
Bremen Arne Frankenstein. An die 400 Teilnehmende aus dem gesamten
Bundesgebiet verfolgten aktiv den Austausch zwischen Vertreter_innen der
Beschwerdeführenden, der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik.

Als zentrale Empfehlungen aus dieser Diskussionsrunde hielt der
Veranstalter u.a. fest: die zwingend notwendige Beteiligung von Menschen
mit Behinderungen – im Gesetzgebungserfahren, aber auch im Corona-
Expertenrat der Bundesregierung – sowie grundsätzlich die Herstellung
gleichberechtigter Teilhabe im Gesundheitswesen. Wie Triage-Kriterien im
Sinne des Beschlusses gestaltet werden können, dazu hat das das Forum
behinderter Juristinnen und Juristen ein Eckpunktepapier für ein Triage-
Gesetz veröffentlicht, das Frankenstein als Grundlage für die Debatte
empfiehlt und das auch BODYS ausdrücklich begrüßt und unterstützt.

Bundesverfassungsgericht greift Forderungen aus BODYS-Stellungnahme auf

In seinem Beschluss vom 16. Dezember 2021 folgte der Erste Senat in weiten
Teilen der Argumentation von BODYS, das die DIVI Empfehlungen als
mittelbare Diskriminierung gegen alte und behinderte Menschen sowie als
Verletzung des internationalen Menschenrechts (insbesondere der UN-
Behindertenrechtskonvention) einstuft. BODYS war neben elf weiteren
„sachkundigen Dritten“ (etwa Bundesärztekammer oder Deutsches Institut für
Menschenrechte) vom BVerfG um Stellungnahme gebeten worden.

In der BODYS-Stellungnahme vom 15. Dezember 2020 wurde eine
menschenrechtsbasierte, diskriminierungsfreie gesetzliche Regelung für
Triage-Entscheidungen gefordert. Diese müsse sich an der Rechtspraxis des
UN-BRK-Ausschusses orientieren, d.h. an dem Menschenrechtsmodell von
Behinderung und dem Prinzip der inklusiven Gleichheit.

Die BODYS-Stellungnahme erlangte besonderen Stellenwert, da auch der
Deutsche Bundestag sie als Bestandteil seiner Stellungnahme dem
Bundesverfassungsgericht vorlegte. Die Entscheidung des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts verpflichtet den deutschen Gesetzgeber,
unverzüglich „im Lichte der Behindertenrechtskonvention dafür Sorge zu
tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der
Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer
Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird.“

Ableism in Medizin und Politik bekämpfen

Besonders erfreulich an der Entscheidung ist aus BODYS-Sicht neben ihrem
starken Menschenrechtsbezug auch die Bezugnahmen auf Wissensbestände der
Disability Studies. So wird nicht nur die jüngst neu entstandene „ZDS“
(Zeitschrift für Disability Studies) zitiert, auch der Begriff Ableismus
wurde mehrfach in der Entscheidung verwendet. BODYS hofft, dass Ableismus
als Ideologie der Behindertendiskriminierung nun auch Gegenstand des
deutschen verfassungsrechtlichen Diskurses wird.

In diesen Kontext gehört ein weiteres Ergebnis der Veranstaltung am 17.
Januar: Den meisten Bundestagsabgeordneten fehlt – nach Einschätzung der
geladenen Politikvertreter_innen – Wissen über die UN-
Behindertenrechtskonvention und den dort verankerten Behinderungsbegriff.
Daher braucht es neben zivilgesellschaftlichem Druck, der die Umsetzung
der Triage-Entscheidung einfordert, auch und vor allem Aufklärung und
Bewusstseinsbildung bei den politischen Akteur_innen. Diskriminierende
Einstellungen und Stereotype müssen sichtbar gemacht und bekämpft werden.

Als hilfreiches Instrument für die Diskussion und Bewusstseinsbildung zum
Thema Ableismus empfiehlt BODYS den Bericht der Sonderberichterstatterin
für die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus 2020. Auf Grundlage
einer thematischen Studie über die Auswirkungen von Ableismus in der
medizinischen und wissenschaftlichen Praxis untersucht die
Sonderberichterstatterin, wie Ableismus sich in Gesetzgebung und Politik
sowie in den üblichen Praktiken, Handlungs- und Verfahrensweisen in den
Bereichen Prävention, Heilung und Sterbehilfe niederschlägt. Der Bericht
enthält Empfehlungen, um die Staaten bei der Entwicklung und Umsetzung
rechtlicher und politischer Reformen zu unterstützen.

BODYS wird den Bericht am 26. Januar 2022 in einer deutschen Fassung auf
seiner Webseite www.bodys-wissen.de veröffentlichen.