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Dagmar Krefting ist Professorin für Medizinische Informatik der Universität Göttingen und Mitglied der Arbeitsgruppe Gesundheit, Medizintechnik, Pflege der Plattform Lernende Systeme.  UM Göttingen
Dagmar Krefting ist Professorin für Medizinische Informatik der Universität Göttingen und Mitglied der Arbeitsgruppe Gesundheit, Medizintechnik, Pflege der Plattform Lernende Systeme. UM Göttingen

Die Forschung an neuen Medikamenten ist ein teures und langwieriges
Unterfangen. Bis zur Zulassung eines Arzneimittels dauert es etwa zwölf
Jahre bei durchschnittlichen Gesamtkosten von etwa 2,8 Milliarden US-
Dollar. Künstliche Intelligenz (KI) kann die Entwicklung von Arzneimitteln
beschleunigen. Wie genau der KI-Einsatz die Arzneimittelforschung
verbessert und was getan werden muss, damit die Bevölkerung von
kostengünstigen Medikamenten profitieren kann, erklärt Dagmar Krefting im
Interview. Sie ist Professorin für Medizinische Informatik der Universität
Göttingen und Mitglied der Arbeitsgruppe Gesundheit, Medizintechnik,
Pflege der Plattform Lernende Systeme.

Wie verbessert der KI-Einsatz die Arzneimittelforschung?

Dagmar Krefting: Künstliche Intelligenz ist überall dort besonders
nützlich, wo komplexe Zusammenhänge zwischen vielen verschiedenen
Einflussfaktoren bestehen. Dies ist bei der Entwicklung von Arzneimitteln
der Fall: Ein Medikament muss nicht nur eine gewünschte Wirkung entfalten,
sondern sollte keine unerwünschten Nebenwirkungen verursachen, möglichst
wenig Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben, gut verträglich
sowie kosteneffizient herstellbar, lagerfähig und leicht zu verabreichen
sein. Dabei treffen komplexe biochemische Stoffkombinationen auf
hochkomplexe menschliche physiologische Prozesse. Hier die sprichwörtliche
Nadel im Heuhaufen zu finden, also ein neues Medikament in der Fülle der
potenziellen Kandidaten, ist durch Laborexperimente und klassischen
klinische Studien nur noch mit sehr hohem Aufwand möglich. Folge davon
ist, dass Arzneimittelentwicklung ein sehr teurer und langwieriger Prozess
ist – im Schnitt dauert es von der Patentanmeldung bis zur Zulassung 12
Jahre. Künstliche Intelligenz kann helfen, aus den existierenden Daten zu
Wirkstoffen, biochemischen Strukturen und Prozessen sowie Wirkungen und
Nebenwirkungen von Arzneimitteln in Studien und in der
Gesundheitsversorgung mögliche Wirkstoffkandidaten zu identifizieren und
deren Wirkung bei unterschiedlichen Patientengruppen vorherzusagen. Dabei
liegt ein besonders hohes Potenzial in der Optimierung der klinischen
Prüfungen durch neue datengestützte Studiendesigns und virtuelle
Studiengruppen.

Wie verbreitet ist KI in der Entwicklung neuer Medikamente?

Dagmar Krefting: Es existieren weltweit nur etwa 700 Unternehmen, die KI-
gestützte Lösungen in der Arzneimittelentwicklung anbieten, insbesondere
im präklinischen Bereich. Ein Einsatzbereich ist die Vorhersage von
geeigneten Einflussmöglichkeiten auf Krankheitsentwicklungen, den
sogenannten Targets. Hier werden zum Beispiel genetische Daten mit
wissenschaftlicher Literatur verknüpft, um Wirkstofftargets vorherzusagen.
Auf Basis eines Targets gibt es KI-Ansätze, die Wirkstoffstrukturen
vorhersagen, teilweise bereits auch wichtige Eigenschaften wie Toxizität
und Herstellbarkeit abschätzen. Die Wirkstoffstruktur kann anschließend
KI-gestützt weiterentwickelt werden, das heißt zum einen der
Herstellungsprozess, aber auch die Wechselwirkung mit dem menschlichen
Stoffwechsel in virtuellen Experimenten erprobt und optimiert werden.
Bisher wenig eingesetzt wird KI bei der Durchführung der klinischen
Studien bis zur Zulassung eines Arzneimittels. Dabei machen diese zwischen
der Hälfte und zwei Drittel der Gesamtentwicklungskosten aus und stellen
zudem besonders kritische Phasen dar, da die Arzneimittel bei Menschen zum
Einsatz kommen. Die bereits oben genannten Potenziale von KI in der
Evidenzgenerierung und der Prozessoptimierung bei klinischen Studien
werden aktuell auch aufgrund mangelnder rechtlicher Vorgaben zum Einsatz
von KI in diesem Bereich nicht genutzt.

Was muss noch getan werden, damit das Gesundheitswesen von der KI-
gestützten Wirkstoffforschung profitieren kann?

Dagmar Krefting: Generell muss KI in Bereichen, in denen ihr Einsatz hohe
Risiken birgt, auf einer für den jeweiligen Anwendungsfall repräsentativen
Datenbasis von hoher Qualität trainiert werden und vertrauenswürdig sein.
Dies bedeutet, die mit der KI erzeugten Vorhersagen müssen nachvollziehbar
und reproduzierbar sein, und insbesondere müssen die Grenzen, in denen die
KI zuverlässige Ergebnisse liefern kann, klar gesetzt werden. Dabei spielt
die Verfügbarkeit und die Qualität von repräsentativen Daten zur
Entwicklung einer KI eine wesentliche Rolle für deren Leistungsfähigkeit.
Wenn wir wollen, dass KI-Modelle auch für die lokale Bevölkerung und das
deutsche Gesundheitswesen geeignet sind, dann müssen diese Daten zum einen
digital vorliegen und zum anderen durch Forschende genutzt werden können.
Durch das Gesundheitsdatennutzungsgesetz sind hier die
Forschungsmöglichkeiten deutlich verbessert worden, dies hilft aber
nichts, wenn die Datenbasis nicht vorhanden ist. Doch selbst ein
wissenschaftlich fundiertes und vertrauenswürdiges KI-gestütztes System
kann nur in klinischen Prüfungen eingesetzt werden, wenn die
Zulassungsbehörden dieses auch als geeignetes Verfahren akzeptieren.
Hierzu sind verlässliche Vorgaben notwendig. Inwieweit hier EU-weite
Regelungen wie der European Health Data Space, die Medical Device
Regulation oder der AI Act für Planungssicherheit sorgen können oder
weitere Hürden im internationalen Vergleich darstellen, muss sich in der
Praxis zeigen.

Originalpublikation:
https://www.plattform-lernende-
systeme.de/files/Downloads/Publikationen/AG6_WP_Wirkstoffforschung_2024.pdf
- Das Whitepaper "Arzneimittel mit KI entwickeln: Von der Idee bis zur
Zulassung" der Plattform Lernende Systeme