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In Großbritannien stehen diese Woche Neuwahlen an. Die Briten wählen am
12. Dezember zum vierten Mal in zehn Jahren ihr Parlament. Für Prof. Dr.
Roland Sturm, der kürzlich für die Bundeszentrale für politische Bildung
(bpb) den Länderbericht Großbritannien herausgegeben hat, ist diese Wahl
anders, polarisierender. Wir haben mit dem Inhaber des Lehrstuhls für
Deutsche und Vergleichende Politikwissenschaft, Europaforschung und
Politische Ökonomie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-
Nürnberg (FAU) darüber gesprochen, was die Wahl für Großbritannien
bedeutet.

Die Briten wählen am 12. Dezember ihr Parlament. Premierminister Boris
Johnson erhofft sich dadurch eine breite Unterstützung für seine
konservative Partei und für den Brexit. Wird dieser Plan aufgehen?

Auch wenn die aktuellen Umfragen die Konservativen und Premierminister
Boris Johnson vorne sehen, sind Vorhersagen und Prognosen äußerst
schwierig. Denn anders als bei Wahlen in Deutschland, wo das
personalisierte Verhältniswahlrecht gilt, ist es in Großbritannien nicht
entscheidend, so viele Stimmen wie möglich zu bekommen, sondern so viele
Wahlkreise wie möglich, damit Sitze im Parlament und damit gegebenenfalls
eine Regierungsmehrheit zu erreichen. Gewählt wird nach einem relativen
Mehrheitswahlrecht.

Dabei zieht ausschließlich der Kandidat eines Wahlkreises in das Parlament
ein, der die meisten Stimmen erhält. Es gilt das Motto „First-past-the-
post“. Wer als erster die Ziellinie überquert, gewinnt. Der Mitbewerber
geht leer aus. Die Stimmen der Verlierer werden nicht im Parlament
repräsentiert und sind verloren. So könnte es mitunter sein, dass die
Konservative Partei von Boris Johnson zwar landesweit eine hohe
Prozentzahl an Wählerstimmen erhält, aber vergleichsweise wenige Sitze im
Parlament bekommt, wenn sie entscheidende Wahlkreise knapp verliert.

Wagen wir dennoch eine Prognose…

Wir haben die Brexit-Partei von Nigel Farage, die zwar nur in Wahlkreisen
antritt, in denen bei der letzten Wahl die Labour-Partei gewonnen hat, um
den Konservativen nicht zu schaden. Man nimmt aber letztendlich trotzdem
auch in den Labour-Wahlkreisen den Konservativen Stimmen weg, so dass
Labour dadurch leichter wiedergewinnt. Zudem ist unklar, wie sich die
Liberaldemokraten schlagen werden. Einige konservative Europa-Freunde
haben im Vorfeld angekündigt, für diese zu stimmen.

In Schottland wird sicherlich die Schottische Nationalpartei die meisten
Sitze gewinnen und Boris Johnson keine Chance haben. Weiterhin ist offen,
wie sich Wahlbündnisse gegen die Konservativen durchsetzen werden. Die
Konservativen könnten im Süden des Landes einige Wahlkreise verlieren,
aber auch im Gegenzug Wahlkreise im Norden von Labour dazugewinnen, so
dass es am Ende womöglich reichen wird für Boris Johnson und seine
Konservative Partei. Es wird in jedem Fall spannend, wie sich das Ergebnis
in Parlamentssitze umrechnen lassen wird.

Welche Wahlkampfthemen sind für die Briten jenseits des Brexits von
Bedeutung?

Eines der wichtigsten Wahlkampfthemen in Großbritannien ist seit jeher der
steuerfinanzierte National Health Service (NHS), also das staatliche
britische Gesundheitswesen. Im Raum steht aktuell der Labour-Vorwurf,
wonach Boris Johnson nach dem Brexit den Ausverkauf des NHS an US-Firmen
plane. Für die Briten ist das ein Unding, denn das kostenlose
Gesundheitswesen für alle hat in Großbritannien denselben Status wie die
Queen, ist also unantastbar. Wenig überraschend versprechen deshalb auch
alle Parteien sehr viel Geld. Boris Johnson etwa will neue Krankenhäuser
bauen lassen. Nachbesserungen sind auch dringend nötig. Denn die soziale
Lage hat sich seit der Finanzkrise 2008 durch eine rigide Sparpolitik mit
teils massiven Kürzungen deutlich verschärft. Die landesweiten sozialen
Probleme schlagen sich auch im Gesundheitswesen nieder.

Wir lesen jeden Tag Schlagzeilen, die vermitteln, nach dem Brexit gibt es
nur Verlierer. Ist das zu schwarzgemalt?

Es ist schon absurd: Da wurde etwas beschlossen, von dem klar ist, dass es
dem Land schaden wird, wenn es wirklich kommt. Alle seriösen Ökonomen
bestätigen, dass ein vollzogener Brexit Großbritannien wirtschaftlich
einen massiven Schaden zufügen wird. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Europa
haben ein solches Ausmaß, dass selbst das Erschließen neuer Märkte in
Indien oder in den USA diese Lücke niemals schließen könnte. Und:
Landstriche wie Wales, wo die Bevölkerung in der Mehrheit für einen
Austritt gestimmt hat, leben paradoxerweise von EU-Geldern. Gewinner wird
es also kaum geben bei einem vollzogenen Brexit, auch wenn Brexit-
Befürworter das Gegenteil behaupten.

Was sagt die Brexit-Debatte über die Gesellschaft in Großbritannien aus?

In der Brexit-Debatte zeigt sich deutlich, wie gespalten die Gesellschaft
in Großbritannien inzwischen ist. Bei allen anderen Themen hat man bisher
immer einen Kompromiss gefunden. Doch in der Brexit-Frage hat der berühmte
britische „Common sense“ versagt. Die beiden Lager sind stattdessen immer
extremer geworden. Boris Johnson will den EU-Ausstieg ohne Wenn und Aber,
zur Not auch ohne ein Abkommen. Dagegen steht der Chef der britischen
Labour-Opposition, Jeremy Corby. Dieser propagiert einen Sozialismus der
70er-Jahre mit einer völlig neuen Wirtschaftsordnung inklusive
Verstaatlichungen. Diese Kompromisslosigkeit im Parlament ist ein Spiegel
der britischen Gesellschaft. Wir erleben sehr ideologisierte Verhältnisse,
die man so bisher nicht kannte in Großbritannien. Bleibt zu hoffen, dass
mit der Wahl am Donnerstag auch der „Common sense“ wiedergewinnt.