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Erstes Themenjahr des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ beleuchtet
gesellschaftliche Herausforderungen von „Zugehörigkeit und Abgrenzung“ –
Wissenschaft und Politik diskutieren über Dynamiken und Spannungen
zwischen politischen, kulturellen und religiösen Gruppen – Fallbeispiele
von der Antike bis heute – Öffentliches Jahresprogramm 2020/21 bietet
vielfältige Veranstaltungs- und Medienformate

Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU befasst sich in seinem
ersten Themenjahr ab November mit gesellschaftlichen Herausforderungen von
„Zugehörigkeit und Abgrenzung“. „Konflikte, die durch Spannungen zwischen
unterschiedlichen politischen, kulturellen und religiösen
Bevölkerungsgruppen entstehen, Identitätsfragen aufwerfen und uns heute
vielfach beschäftigen, prägen Gesellschaften seit jeher – gerade, wenn es
in der Geschichte um Einwanderung oder Fremdherrschaft ging. In unserer
global vernetzten Welt gewinnen derartige Herausforderungen noch eine neue
Qualität, wir sehen weltweit gravierende Konflikte“, erläutern der
Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack und der Rechtshistoriker Prof.
Dr. Nils Jansen zum Start des Jahresprogramms mit vielfältigen
Veranstaltungs- und Medienformaten, das den Untertitel „Dynamiken sozialer
Formierung“ trägt. Mitglieder des Exzellenzclusters und Gäste aus
Wissenschaft und Politik erörtern an Fallbeispielen von der Antike bis
heute, wie Zugehörigkeiten zu Gruppen und Identitäten entstehen, wie sie
Konflikte provozieren und sozialer Ausgleich zustande kommt. „Wenn wir es
heute etwa mit religiöser Radikalisierung und politischer Polarisierung zu
tun haben oder mit Rassismus und Antisemitismus, dann spielen diese
Dynamiken eine ganz wesentliche Rolle.“

Auch der Aufstieg rechtpopulistischer Parteien in Europa, den USA und
Brasilien sei ein Beispiel für die oft emotional geführten Konflikte um
Zugehörigkeit und Abgrenzung, so die Wissenschaftler weiter. Es habe sich
dabei eine neue Konfliktlinie „zwischen Kosmopolitismus und Regionalismus“
herausgebildet. „Auf der einen Seite stehen die kosmopolitisch und mobil
lebenden Bessergebildeten, die sich Europa, dem Westen, den Metropolen der
Welt zugehörig fühlen, auf der anderen Seite diejenigen, die ihre
Identität in ihrer Heimatregion suchen, multikulturellen Vorstellungen und
Diversität skeptisch gegenüberstehen und häufig keinen hohen Bildungsgrad
aufweisen.“

Auch in der Geschichte lassen sich viele Beispiele für die Dynamiken
finden, die das Jahresthema „Zugehörigkeit und Abgrenzung“ beschreibt –
etwa die Geschichte der Juden im Alten Rom, das multikonfessionelle
Fatimidenreich im Mittelalter und die westafrikanischen Soldaten, die die
französische Kolonialmacht in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts in
Europa einsetzte. Dies sind Beispiele, die die Ringvorlesung „Imperien und
Zugehörigkeiten“ behandelt. Sie setzt ab 3. November den Auftakt des
Jahresprogramms. Unter den Gästen sind der Politikwissenschaftler Herfried
Münkler und die Historiker Wolfgang Reinhard und Lora Wildenthal. Die
Reihe zeigt auf, wie Imperien in der Geschichte immer wieder Einfluss auf
die sozialen, kulturellen und religiösen Identitäten im Reich nahmen.
(Anmeldung zur Zoom-Veranstaltung für alle Interessierten bis 30.10. unter
veranstaltungenEXC@uni-muenster.de).

Das Jahresprogramm geht weiter mit Veranstaltungen zu einem der großen
interdisziplinären Forschungsvorhaben des Exzellenzclusters über
Bedrohung, Zugehörigkeit und Demokratieakzeptanz in Europa und der Hans-
Blumenberg-Gastprofessur, die im Sommersemester 2021 der
Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Marc Helbling aus Mannheim mit seinen
Forschungen zu Integration, Xenophobie und der dynamischen Rolle von
Religion innehat. In einer Gesprächsreihe „Gesellschaftliche Zugehörigkeit
und politische Abgrenzung“ kommen Wissenschaft und Politik in Austausch
über Abgrenzungen im demokratischen System, Integration und Populismus. Am
Themenjahr, dessen Programm sich im Laufe des Jahres erweitert, beteiligen
sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Disziplinen wie der
Soziologie, Rechts-, Geschichts- und Politikwissenschaften sowie
Psychologie, Philosophie, Theologie und Ethnologie.

Fundamentalisten setzen auf Abgrenzung, Gemäßigte auf Austausch

„Wenn wir von ‚Zugehörigkeit‘ sprechen, meinen wir zum einen eine feste
soziale Kategorie“, so Soziologe Pollack. „Ob Muslim oder Christin,
Türkeistämmiger oder Nordafrikanerin, Ostdeutscher oder Westdeutsche: Man
wird in diese sozialen Gruppen hineingeboren und von Geburt an durch sie
geprägt – ob man will oder nicht.“ Auf der anderen Seite sei Zugehörigkeit
eine Vorstellung, die Gruppen und ihre Vertreter von sich selbst
entwerfen. „Dabei haben soziale Gruppen oft ein bestimmtes Image, das das
eigene Selbstverständnis mit beeinflusst: Ostdeutschen zum Beispiel wird
gern Gemeinschaftlichkeit zugeschrieben, Westdeutschen Egoismus, Muslimen
Fanatismus oder Patriarchalismus.“ Diese Zuschreibungen beeinflussten
unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt das Selbstgefühl und die
Selbstwahrnehmung der Betroffenen. „Wenn das Selbstverständnis und die
Fremdwahrnehmung einer Gruppe nicht übereinstimmen, führt das zu
Konflikten und Kämpfen um Deutungshoheit. Diese Spannungen interessieren
uns, weil sich aus ihnen die Dynamik der Formierung sozialer Gruppen
erklärt.“

Unterscheiden lässt sich den Forschern zufolge zwischen Gemeinschaften
oder Gesellschaften, die gegenüber ihrer jeweiligen Umwelt besonders
aufgeschlossen sind, und solchen, die sich von ihrer Umwelt stärker
abgrenzen. „In den Religionen etwa zeigt sich: Fundamentalistisch
eingestellte Gruppen im Christentum, Islam, Judentum oder auch in anderen
Glaubensgemeinschaften der Welt neigen zu einer vergleichsweise starken
Abgrenzung von ihrer Umwelt, oft verbunden mit einem ambivalenten
Verhältnis zu sich selbst.“ Sie fühlten sich häufig der „säkularen“ Welt
und anderen Religionen gegenüber sowohl über- als auch unterlegen. „Andere
gemäßigte religiöse Gruppen setzen dagegen auf Austausch, Dialog, manchmal
sogar auf die Gemeinschaft mit Andersdenkenden.“ (sca/vvm)