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Forschende aus 90 Wissenschaftseinrichtungen weltweit stellen fest: Die
Erforschung und der Schutz der Süßwasser-Biodiversität bleiben weit hinter
denen im terrestrischen und marinen Bereich zurück. Sie haben in der
Fachzeitschrift Ecology Letters eine Forschungsagenda mit 15 Prioritäten
veröffentlicht, mit denen es gelingen soll, die biologische Vielfalt in
Seen, Flüssen und Feuchtgebieten besser zu erforschen und zu schützen. Das
ist dringend nötig, denn der Artenverlust schreitet in Binnengewässern
schneller voran als an Land und im Meer.

„Der Biodiversitätsverlust im Süßwasser ist eine weltweite Krise, die
buchstäblich unter der Wasseroberfläche verborgen ist“, stellt die
Professorin Sonja Jähnig vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und
Binnenfischerei (IGB) und der Humboldt-Universität zu Berlin fest. Die
Biodiversitätsforscherin hat die Agenda zur Priorisierung der
Forschungsthemen und Schutzmaßnahmen der Süßwasser-Biodiversität initiiert
und zusammen mit 95 Forschenden aus 38 Ländern auf den Weg gebracht.

Die biologische Vielfalt im Süßwasser umfasst die Gene, Populationen,
Arten, Gemeinschaften und Ökosysteme aller Binnengewässer. Sie erbringt
wesentliche Leistungen, die als Lebensgrundlage für das Wohlergehen der
Menschen von großer Bedeutung sind. Aller Wichtigkeit zum Trotz:
„Gegenwärtig nimmt diese biologische Vielfalt in einem noch nie
dagewesenen Ausmaß ab. Zahlen belegen das sehr eindrücklich“, sagt Sonja
Jähnig.

Rückgang der Bestände von Süßwassertieren um über 80 Prozent:

Der jüngste Living Planet Report dokumentiert für 3.741 untersuchte
Populationen, die 944 Süßwasserwirbeltierarten repräsentieren, einen
durchschnittlichen Rückgang der Bestände um 84 Prozent – innerhalb von  50
Jahren. Dies ist der stärkste Rückgang in den drei großen Bereichen Land,
Meere und Süßwasser. „Trotz des anhaltenden, beispiellosen Rückgangs
schaffen es internationale und zwischenstaatliche wissenschaftlich-
politische Plattformen, Förderorganisationen und große gemeinnützige
Initiativen nach wie vor nicht, der Süßwasser-Biodiversität die ihr
gebührende Priorität einzuräumen“, kritisiert auch Dr. Alain Maasri,
Erstautor der Studie vom IGB.

Binnengewässer bei der Umweltförderung deutlich unterrepräsentiert:

So zeigt ein aktueller Bericht (Moralis, D. 2021. Environmental funding by
European foundations, volume 5 ed. Centre, EF. European Foundation Centre)
über die Umweltfinanzierung durch 127 europäische Stiftungen, dass auf
Binnengewässer nur 1,75 Prozent der insgesamt 745 Millionen Euro, die 2018
für Umweltarbeit bewilligt wurden, entfallen und dass unter den 13
thematischen Kategorien, die zur Bewertung der Fördermittelverteilung
herangezogen wurden, Binnengewässer an vorletzter Stelle stehen. Oftmals
werden Binnengewässer auch bei den Land-Ökosystemen mitgeführt - und dann
in Finanzierungsplänen nicht ausreichend berücksichtigt.

Neue Agenda soll Biodiversitätsforschung und Umweltpolitik voranbringen:

„Die Agenda soll einen Impuls für ein stärkeres globales Engagement für
die Erforschung und den Schutz der biologischen Vielfalt von Süßwasser
setzen; konkrete Maßnahmen müssen jedoch immer auf lokaler, regionaler und
nationaler Ebene entwickelt werden“, betont Sonja Jähnig.

Die Autorinnen und Autoren der Agenda identifizieren 15 Prioritäten in den
Bereichen Dateninfrastruktur, Monitoring, Ökologie, Management und
Sozioökologie, anhand derer die internationale Biodiversitätsforschung im
Gewässerbereich zielgerichtet entwickelt werden sollte. Und die
Autor*innen haben drei großen Herausforderungen – Wissenslücken,
Kommunikationsschwierigkeiten und mangelhafte politische Umsetzung – mit
diesen 15 Prioritäten in Zusammenhang gesetzt.

Wissenslücken schließen, besser kommunizieren und politischen Mut zeigen:

„Es geht nicht darum, mit dem Finger auf politische Entscheider*innen oder
andere Akteure zu zeigen. Wir alle – auch wir Forschenden – sind in der
Pflicht, Prioritäten zu setzen und besser zusammenzuarbeiten“, sagt Alain
Maasri. Große Wissenslücken und einen ungleichen Zugang zu Informationen
gibt es im Bereich der Ökologie, also beispielsweise über die
Wechselwirkungen zwischen Organismen und der Umwelt. Auch das Monitoring
könnte verbessert werden: mithilfe von automatisierten Bild- und
Videoanalysen, künstlicher Intelligenz, Fernerkundungstechnologien oder
durch bürgerwissenschaftliches Engagement. Andere Disziplinen sollten
ebenfalls einbezogen werden.

Kommunikationsschwierigkeiten bestehen oftmals zwischen
Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen, Manager*innen und politischen
Entscheidungsträger*innen; dies betrifft z.B. die Mobilisierung und
Bereitstellung vorhandener Daten. Dies sollte mit der Digitalisierung von
Daten aus regionalen und nationalen Überwachungsbehörden,
Museumssammlungen und Forschungseinrichtungen einhergehen.
Mehr politischen Rückenwind wünschen sich die Autor*innen bei
Zielkonflikten zwischen ökologischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Interessen durch die Einbeziehung von lokalen
Gemeinschaften und Fachleuten. Dazu gehört auch, traditionelles und
indigenes ökologisches Wissen einzubeziehen.
„Allen voran sollten Seen, Flüsse, Teiche und Feuchtgebiete in
Bewirtschaftungs- und Renaturierungsprogrammen  ausdrücklich als wichtige,
eigenständige Lebensräume anerkannt werden“, resümiert Sonja Jähnig.

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Zur Genese der internationalen Agenda:
Die Agenda wurde auf einem internationalen Workshop der Alliance for
Freshwater Life im November 2018 in Berlin initiiert. Die Agenda spiegelt
die kollektive Meinung der Autor*innen wider und basiert auf intensiven
Diskussionen und Austausch von Wissen und Ideen im Jahr 2020. Bei den
Autor*innen dieser Agenda handelt es sich um Forschende aus 38 Ländern,
von denen 18 (47 %) als Länder des globalen Südens gelten. Von den 96
Autor*innen sind 28 (29 %) mit Universitäten und Forschungsinstituten in
Ländern des Globalen Südens verbunden, und 16 (17 %) geben an, dass sie
derzeit gemeinsam mit indigenen Völkern an der Bewirtschaftung und
Erhaltung der Süßwasser-Biodiversität arbeiten. Daher sind die Autor*innen
überzeugt, dass die vorgeschlagene Agenda mit ihren 15 Prioritäten eine
repräsentative Meinungsvielfalt widerspiegelt.

Die 15 Prioritäten:
Dateninfrastruktur – 1. Erstellung eines umfassenden Überblicks über
Daten, 2. Effektive Mobilisierung und Digitalisierung vorhandener Daten,
3. Entwicklung zugänglicher Datenbanken nach den Grundsätzen der
Auffindbarkeit, Zugänglichkeit, Interoperabilität und Wiederverwendbarkeit
(FAIR-Datenprinzipien).
Monitoring – 4. Koordinierung bestehender und Einrichtung neuer
Monitoringprogramme, 5. Ermittlung und Behebung von Wissenslücken im
Bereich der biologischen Vielfalt, 6. Entwicklung neuer innovativer
Methoden zur Überwachung der biologischen Vielfalt.
Ökologie – 7. Verständnis der mechanistischen Beziehungen zwischen
biologischer Vielfalt und Ökosystemleistungen, 8. Untersuchung der
Reaktionen der biologischen Vielfalt auf verschiedene Stressfaktoren, 9.
Untersuchung der ökologischen und evolutionären Reaktionen von Organismen,
Gemeinschaften und Ökosystemen auf den globalen Wandel.
Management – 10. Evaluierung von Renaturierungsmaßnahmen, 11. Entwicklung
von Bewirtschaftungsstrategien im Einklang mit den Szenarien für „Nature
Futures“, 12. Erarbeitung von landschaftlichen Perspektiven für die
Bewirtschaftung und ökologisch verträgliche Staudammbau- und
Betriebskonzepte
Sozioökologie – 13. Einbeziehung der Sozialwissenschaften in die
Biodiversitätsforschung, 14. Methoden zur Bewertung von Kompromissen
zwischen ökologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Bedürfnissen, 15. Systematische Entwicklung von Bürgerwissenschaft und
partizipativer Forschung.

Alliance for Freshwater Life (AFL):
Die Vision: Eine Welt, in der die Menschen unter die Wasseroberfläche
schauen – um die Süßgewässerbiodiversität zu verstehen, zu schätzen und zu
schützen. Obwohl Binnengewässer weniger als ein Prozent der Erdoberfläche
bedecken, gehören sie zu den artenreichsten Lebensräumen unseres Planeten.
Noch, denn Flüsse und Seen sind von einem rasanten Rückgang der
biologischen Vielfalt betroffen. Ursachen dafür sind Gewässer- und
Landnutzungskonzepte, in denen der Schutz der Süßgewässerbiodiversität
nicht ausreichend berücksichtigt wird. Die AFL ist ein internationales
Netzwerk von aktuell 23 Partnern, das von fünf Säulen getragen wird:
Forschung, Daten und Synthese, Öffentlichkeitsarbeit und Bildung,
Naturschutz, Politik. Initiiert wurde die AFL unter anderem von
Forschenden des IGB. Die AFL ist für alle Teilnehmenden aus Forschung,
Naturschutz und Politik ein Bekenntnis, ihre Expertisen zu bündeln und das
Thema auf die politische und gesellschaftliche Agenda zu heben.

Über das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB):
„Forschen für die Zukunft unserer Gewässer“ ist der Leitspruch des
Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Das IGB
ist das bundesweit größte und eines der international führenden
Forschungszentren für Binnengewässer. Es verbindet Grundlagen- und
Vorsorgeforschung, bildet den wissenschaftlichen Nachwuchs aus und berät
Politik und Gesellschaft in Fragen des nachhaltigen Gewässermanagements.
Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Langzeitentwicklung von Seen,
Flüssen und Feuchtgebieten und die Auswirkungen des Klimawandels, die
Renaturierung von Ökosystemen, der Erhalt der aquatischen Biodiversität
sowie Technologien für eine nachhaltige Aquakultur. Die Arbeiten erfolgen
in enger Kooperation mit den Universitäten und Forschungsinstitutionen der
Region Berlin-Brandenburg und weltweit. Das IGB gehört zum
Forschungsverbund Berlin e. V., einem Zusammenschluss von sieben natur-,
lebens- und umweltwissenschaftlichen Instituten in Berlin. Die vielfach
ausgezeichneten Einrichtungen sind Mitglieder der Leibniz-Gemeinschaft.
https://www.igb-berlin.de

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