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Der Körper ist wieder gesund, der Schmerz bleibt. Wenn Schmerzen über
Monate oder gar Jahre hinweg nicht verschwinden, obwohl sich keine
körperliche Ursache mehr finden lässt, spricht man in der Medizin von
chronischen Schmerzen. Der verselbstständigte Schmerz kann die Betroffenen
erheblich belasten und ist mittlerweile als Krankheitsbild anerkannt.
Während den Beschwerden therapeutisch immer besser begegnet werden kann,
gibt es nach wie vor kaum vorbeugende Angebote, mit denen eine
Chronifizierung verhindert werden könnte. Mit dem Projekt „PAIN2.0“
evaluiert die Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. nun ein
interdisziplinäres 10-Wochen-Programm, das diese Präventionslücke
schließen soll.

Warum werden die einen nach einem Unfall, einer Operation oder einem
„Hexenschuss“ wieder gesund, während andere ihre Schmerzen auch lange nach
der Heilungsphase einfach nicht loswerden? In der Medizin werden diese
Unterschiede heute mithilfe des biopsychosozialen Modells erklärt. „Wie
der Name es bereits andeutet, geht man davon aus, dass verschiedene
Faktoren zusammenwirken müssen, damit Schmerzen chronisch werden“, sagt
Dr. rer. nat. Anne Gärtner, Diplom-Psychologin und Psychologische
Psychotherapeutin an der TU Dresden. Neben einer biologischen Ursache –
etwa einem Knochenbruch, der die Schmerzen in der Akutphase ausgelöst hat
– tragen demnach auch psychische und soziale Faktoren dazu bei, dass die
Beschwerden über eine unangemessen lange Zeit bestehen bleiben. So ist das
Chronifizierungsrisiko etwa bei Menschen besonders hoch, die sich durch
ihre Schmerzen stark im Alltag beeinträchtigt fühlen, die ausgeprägtes
Vermeidungsverhalten entwickeln, Anzeichen für eine Depression zeigen oder
ihre Beschwerden katastrophisieren. Auch soziale Faktoren wie beruflicher
Stress oder familiäre Belastungen können zu einer Chronifizierung
beitragen.

Das von der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. in Zusammenarbeit mit der
BARMER entwickelte interdisziplinäre Präventionsprogramm PAIN2.0 setzt
daher bereits dann an, wenn erste Anzeichen für diese Risikofaktoren
auftreten. Das ambulante Programm, das bundesweit angeboten wird, dauert
insgesamt 10 Wochen und umfasst 3 Stunden Gruppentherapie pro Woche, die
nachmittags stattfinden, sowie ergänzende Einzelsitzungen. „PAIN2.0 ist
vom Umfang her bewusst so gestaltet, dass es berufs- und alltagsbegleitend
genutzt werden kann“, sagt Gärtner, die neben Privatdozentin Dr.  rer.
nat. Dipl.-Psych. Ulrike Kaiser (UKSH Lübeck) die wissenschaftliche
Projektleitung am USC - UniversitätsSchmerzCentrum Dresden innehat.

Im Rahmen des Präventionsprogramms erlernen die Teilnehmenden individuelle
Strategien zur Schmerzbewältigung und aktive Übungen, über die sie
letztlich zu einem veränderten Schmerz- und Belastungsverhalten im Alltag
finden sollen. „Die Teilnehmenden müssen ihren Schmerz verstehen, deshalb
ist auch eine ausführliche Edukation zu schmerzbezogenen Themen ein
wichtiger Bestandteil des Programms“, so Gärtner. Das Besondere dabei ist,
dass die Therapie von allen beteiligten Berufsgruppen – den ärztlichen,
psychologischen und physiotherapeutischen – gleichberechtigt gestaltet
wird. Eine begleitende Studie soll klären, wie effektiv dieser neue Ansatz
einer Chronifizierung entgegenwirken kann. Um teilnehmen zu können, müssen
die Betroffenen volljährig sein, und ihre Beschwerden müssen seit mehr als
6 Wochen bestehen oder über einen längeren Zeitraum immer wieder
aufgetreten sein.

Eine interdisziplinäre, multimodale Therapie ist in Deutschland noch nicht
oft genug für die Betroffenen verfügbar – aus Sicht der selbst
schmerzerkrankten Heike Norda einer der Gründe dafür, dass die Behandlung
chronischer Schmerzen oft in falschen Bahnen verläuft. „Betroffene werden
vom Hausarzt zur Physiotherapie, dann in die Orthopädie und häufig erst
nach invasiven Therapieversuchen zum Schmerztherapeuten geschickt“, sagt
die Vorsitzende der Patientenvereinigung UVSD SchmerzLOS e. V. in
Neumünster, die auf der Pressekonferenz aus der Perspektive der
Betroffenen über das Thema berichten wird. Nach der Überweisung seien
Wartezeiten von bis zu 12 Monaten auf den Ersttermin in der
Schmerztherapie eher die Regel als die Ausnahme. Der Verein setzt sich
daher für eine sektorenübergreifende Behandlung, eine Verkürzung von
Wartezeiten auf höchstens 4 Wochen und die Abschaffung finanzieller
Anreize für invasive Maßnahmen ein. Diese sollten den Gesprächsleistungen,
die im Rahmen der Schmerztherapie zielführender und zur Früherkennung von
Chronifizierungsrisiken notwendig seien, gleichgestellt werden.

Zu den Forderungen von SchmerzLOS e.V. zählt auch eine strukturierte
Aufklärung der Betroffenen über das biopsychosoziale Modell, wie sie im
Rahmen von PAIN2.0 stattfindet. „Nur wer die Krankheitsfaktoren kennt und
seine Krankheit als solche akzeptiert, kann aktiv an der Behandlung
mitwirken“, betont Norda. Auch im sozialen Umfeld und in der Gesellschaft
als Ganzes tue Aufklärung Not – denn auch heute noch werden viele
Schmerzpatient*innen mit dem Vorwurf konfrontiert, sich gehen zu lassen
oder gar zu simulieren. „Dieses Unverständnis ist besonders belastend und
für die Heilung kontraproduktiv“, sagt Norda. Auch aus diesem Grund wird
der Austausch mit anderen Betroffenen in einer Selbsthilfegruppe meist als
äußerst hilfreich empfunden – ein wichtiger Baustein der Schmerztherapie,
den nach Nordas Erfahrung noch immer viel zu wenige Behandelnde ihren
Patient*innen empfehlen.