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Wissenschaftlicher Beirat überreicht Gutachten zu Sorgfaltspflichten von
Unternehmen im Agrar- und Ernährungssektor an Bundesminister Cem Özdemir /
Prof. Dr. Christine Wieck von der Universität Hohenheim leitet die
Arbeitsgruppe des Beirats

Lieferkettengesetze können ein Erfolg für Menschen- und Arbeitsrechte
sowie Umwelt- und Klimaziele werden – wenn sie zielorientiert gestaltet
sind. Damit die neuen Regelungen weder zum Bürokratiemonster noch zum
Papiertiger werden, hat der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik,
Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) Empfehlungen für
die Politik erarbeitet. Heute, am 8. Dezember, nahm der Bundesminister für
Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir, das Gutachten „Neue
Sorgfaltspflichten von Unternehmen des Agrar- und Ernährungssektors:
Empfehlungen zu aktuellen Gesetzesentwicklungen“ in Berlin entgegen. Die
beteiligten Wissenschaftler:innen analysieren darin die möglichen
Auswirkungen der neuen Lieferkettenregelungen und erfassen auch
Zielkonflikte etwa zur Handelspolitik. Öffentliche Präsentation des
Gutachtens am 11. Dezember 2023 um 16.30 Uhr.

Zurzeit mehren sich Hinweise auf mögliche Verstöße gegen das deutsche
Lieferkettengesetz, die auch den Agrar- und Ernährungssektor betreffen.
Auch die wieder zunehmenden Zahlen von Kinder- und Zwangsarbeit, zeigen
die Menschenrechtsrisiken entlang globaler Lieferketten. „Der WBAE begrüßt
ausdrücklich Lieferkettenregelungen, die Unternehmen verpflichten, sich
für die Einhaltung grundlegender Menschen- und Arbeitsschutzrechte bei
ihren Lieferanten einzusetzen. Dies gilt auch für die ambitionierteren
Pläne der EU-Richtlinie”, so Prof. Dr. Christine Wieck, Universität
Hohenheim und Leiterin der Arbeitsgruppe des WBAE.

Paradigmenwechsel für Unternehmen durch neue Sorgfaltspflichten

Die gesetzlichen Sorgfaltspflichten in Lieferketten sind ein relativ neues
Politikinstrument, das für die meisten Unternehmen einen Paradigmenwechsel
im Management darstellt. Nunmehr müssen sie die Menschenrechts- und
Arbeitsschutzrisiken auch bei ihren Zulieferern in den Blick nehmen. „Der
WBAE empfiehlt, die Lieferkettensorgfaltsregelungen als lernendes System
anzulegen, die verschiedenen Sorgfaltspflichten bürokratiearm aufeinander
abzustimmen und die Unternehmen bei der Umsetzung zu unterstützen“,
erläutert Prof. Dr. Achim Spiller, Universität Göttingen und Vorsitzender
des WBAE.

„Umwelt- und Klimaziele sollten dann als Verpflichtung schrittweise
integriert werden, wenn die dafür notwendigen Mess- und Monitoringsysteme
vorliegen und die erforderlichen Parameter für die Unternehmen steuerbar
sind. Zusätzlich gilt es, die Umsetzungserfahrungen systematisch
auszuwerten“, so Dr. Hiltrud Nieberg, Thünen-Institut und stellvertretende
Vorsitzende des WBAE.

Beirat empfiehlt staatliche Regulierung der Zertifizierung

Aus Sicht des Beirats darf sich die Kontrolle der Sorgfaltspflichten nicht
nur auf Berichte fokussieren und damit zum „Papiertiger“ werden. In der
Praxis werden Zertifizierungssysteme bei der Kontrolle der
Sorgfaltspflichten eine große Rolle spielen. Allerdings weisen die
gängigen Zertifizierungssysteme Schwachstellen auf und sind nicht
gesetzlich geregelt, weshalb der Beirat eine staatliche Regulierung dieser
Zertifizierungssysteme empfiehlt.

„Verbesserte, staatlich überwachte Zertifizierungen sollten Unternehmen
dann vor einer Haftung schützen und somit zugleich die auch
entwicklungspolitisch relevante Gefahr reduzieren, dass sich Unternehmen
aus Risikogebieten zurückziehen, da sie dort im besonderen Maß einem
Haftungsrisiko ausgesetzt wären“, begründet Prof. Dr. Spiller diese
Empfehlung.

Konkretisierung der Regelungen wichtig für Haftungsfragen

Der WBAE unterstützt die im Entwurf der EU-Richtlinie derzeit verhandelte
zivilrechtliche Haftung bei Verstößen. Voraussetzung für diese ist die
hinreichende Konkretisierung der jeweiligen Regelungen. Sorgfaltspflichten
im Sinne von Verboten, wie dem Verbot der Zwangsarbeit, erlauben es,
Verstöße klar zu definieren und ermöglichen eine Haftung.

„Verstöße gegen Zielabkommen, wie das Pariser Klimaschutzabkommen,
eröffnen dagegen derzeit kaum Haftungsmöglichkeiten, weshalb die
Sorgfaltspflichten vom Gesetzgeber weiter konkretisiert werden müssen, um
wirksam werden zu können”, so Beiratsmitglied Professor José Martinez der
Uni Göttingen. Gerade in der Agrarwirtschaft mangelt es noch an der
notwendigen Konkretisierung von Sorgfaltspflichten zum Klimaschutz und zum
Erhalt der Biodiversität.

Lohn- und Einkommensniveaus für das Recht auf Nahrung relevant

Auch hinsichtlich des Rechts auf Nahrung sieht der WBAE
Ausweitungsmöglichkeiten, denn vielfach schützen die gezahlten Löhne und
erzielten Preise nicht vor Hunger. „Zur Sicherung des Menschenrechts auf
Nahrung sind existenzsichernde Löhne für Landarbeiterinnen und
Landarbeiter und existenzsichernde Einkommen für Kleinbäuerinnen und
Kleinbauern essentiell”, erläutert Beiratsmitglied Professorin Regina
Birner der Universität Hohenheim. „Wir sehen ein großes Potential in der
Entwicklung von Branchenabkommen, die dieses Ziel anstreben.”

Länder des Globalen Südens müssen Gehör finden

Mit den Lieferkettengesetzen greifen Deutschland und die EU tief in
globale Lieferketten und damit das Handeln von Unternehmen aus anderen
Ländern ein, weil sie die Durchsetzbarkeit von internationalen
Übereinkommen im Bereich Menschen- und Arbeitsrechte schärfen. Über die
Verpflichtung von europäischen Unternehmen will sie die Rechtsdurchsetzung
in anderen Ländern verändern.

Deshalb ist es aus Sicht des WBAE besonders in der aktuellen geopolitisch
schwierigen Lage wichtig, dass eigene Ansätze der Handelspartnerländer
berücksichtigt werden und Strukturen für Erfahrungs- und
Informationsaustausch geschaffen werden. „Länder des Globalen Südens
sollten handels- und entwicklungspolitisch unterstützt werden“, betont
Prof. Dr. Wieck abschließend.

HINTERGRUND: In Deutschland gilt seit Anfang 2023 ein Lieferkettengesetz
für Unternehmen mit mehr als 3.000 Arbeitskräften. In der EU ist die
Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten in Kraft getreten, und
aktuell wird intensiv über die Details eines weitergehenden europäischen
Lieferkettengesetzes diskutiert. Die geplante EU-Richtlinie kann
wahrscheinlich über die Anforderungen des deutschen Gesetzes hinausgehen,
da mehr Sorgfaltspflichten im Bereich Umwelt- und Klimaschutz und eine
zivilrechtliche Haftung für die Unternehmen verhandelt werden. Zudem
sollen von Beginn an auch Unternehmen mit weniger als 3.000 Beschäftigten
in den Geltungsbereich einbezogen werden. Der WBAE gibt Empfehlungen zur
Ausgestaltung der kommenden EU-Richtlinie, die sich gerade in den
Trilogverhandlungen von Europäischer Kommission, Europäischem Parlament
und Ministerrat befindet, und für die dann notwendige Anpassung des
deutschen Gesetzes.

SAVE THE DATE: Insgesamt arbeitet der Beirat drei Empfehlungsbereiche
heraus: 1. Empfehlungen für eine wirkungsvolle Umsetzung, 2. Empfehlungen
für die Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen, 3. Empfehlungen für
eine systematische Weiterentwicklung der Sorgfaltspflichten. Diese werden
in einer öffentlichen Präsentation des Gutachtens am 11. Dezember 2023 von
16:30 Uhr bis 18:00 Uhr von den Mitgliedern des WBAE vorgestellt, wobei
genügend Zeit für den Austausch mit allen interessierten Teilnehmenden
vorgesehen ist.

Zur Anmeldung: https://uni-
goettingen.zoom-x.de/webinar/register/WN_w75ztNa2Tvqd3JSSsOZVgg