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Post-COVID – Fakt oder Fiktion?

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n vielen Studien wird derzeit versucht, die Entstehungsmechanismen der
Post-COVID-Erkrankung zu klären und Ansatzpunkte für eine ursächliche
Therapie zu finden. Auch eine Studie aus Essen versuchte, objektive
pathologische Befunde zu erfassen, was aber nicht gelang. Viele Betroffene
wiesen eine Somatisierungsstörung auf, offensichtlich ein Risikofaktor für
Post-COVID. Diese sei aber nicht gleichzusetzen mit einer
„Psychologisierung“ der Erkrankung. Verschiedene Studien zeigten
laborchemische und radiologische Auffälligkeiten bei Post-COVID. Die
Datenlage ist allerdings sehr heterogen, der Pathomechanismus bislang
nicht geklärt.

Die gesundheitsökonomisch-politischen wie gesellschaftlichen Folgen der
Pandemie werden zunehmend sichtbar – sowohl im Alltag der damit
konfrontierten Ärztinnen und Ärzte als auch im Alltagsleben mit unseren
Mitmenschen. Es fällt jedoch immer wieder auf, dass Studien weltweit zu
unterschiedlichen Angaben bezüglich der Prävalenz von Post-COVID-
Erkrankungen kommen. Jüngst hat eine in „Nature Medicine“ veröffentlichte
Studie [2] nationale Gesundheitsdaten des USDVA (US Department of Veterans
Affairs) von über 150.000 COVID-19-Erkrankten mit mehr als 5,5 Millionen
zeitgleichen und ebenso vielen historischen Kontrollen verglichen. Im
Ergebnis hatten ein Jahr nach der akuten SARS-CoV-2-Infektion 70 von 1.000
Betroffenen mindestens eine neurologische Post-COVID-Manifestation. Diese
Angabe ist im Vergleich zu anderen Studien, die von Zahlen bis zu 40 %
sprechen, als eher „konservativ“ zu bezeichnen; dennoch stellen auch 7 %
von vielen Millionen Menschen, die bislang an COVID-19 erkrankt waren,
eine enorme Herausforderung für das Gesundheitssystem dar.

Ein großes Problem ist dabei die Diagnosestellung, denn es gibt bislang
keine sicheren bzw. validen Biomarker, mit denen Post-COVID objektiv
nachgewiesen werden kann. Die Diagnose wird derzeit durch die
Krankheitssymptome definiert und mit Fragebögen erfasst wie z. B. dem
„Montreal Cognitive Assessment“ (MoCA), der „Epworth Sleepiness Scale“
(ESS), dem „Beck Depression Inventory Version I“ (BDI) oder der „Fatigue
Severity Scale“ (FSS). In Studien werden oft unterschiedliche Fragebögen
eingesetzt, was die Vergleichbarkeit erhobener Befunde und Daten
erschwert.

Im Rahmen einer prospektiven Studie [1] der Universität Duisburg-Essen
wurde eine Real-World-Kohorte von 171 entsprechend den Delphi-Konsensus-
Kriterien der WHO definierten Post-COVID-Betroffenen (bis August 2021,
also vor dem Auftreten der Omikron-Variante) untersucht. Die Betroffenen
erhielten umfassende neurovaskuläre, elektrophysiologische Tests und
Laboruntersuchungen. Neuropsychologische und psychosomatische Tests sowie
teilweise auch ein zerebrales MRT oder Lumbalpunktionen (Liquordiagnostik)
ergänzten die Diagnostik. Fast 67 % der Betroffenen waren Frauen mittleren
Alters mit vormals milder bis moderater COVID-19-Erkrankung (nur 5 % mit
stationärer Behandlung). Die häufigsten Beschwerden waren
Konzentrationsprobleme (58,2 %), Fatigue (58,2 %) und Gedächtnisstörungen
(32,7 %). Insgesamt gab es Beeinträchtigungen in allen erfassten
Kognitionsdomänen. Bei der Einordnung der stark variierenden Symptomatik
konnten drei Cluster abgegrenzt werden: eine Gruppe mit vornehmlich
Kopfschmerzen und Fatigue (Kopfschmerz-Cluster, n = 46), eine mit
vornehmlich psychiatrischen Beschwerden plus Fatigue (Psycho-Fatigue, n =
34) und eine mit vorrangig Fatigue und Konzentrationsstörungen (Fatigue-
Konzentration, n = 60).

Im Ergebnis fanden sich mehrheitlich weder spezifische Veränderungen von
Blutwerten (Blutbild, Hämoglobin, Entzündungswerte und andere Parameter)
noch der Lungenfunktion (Oxygenierung, Vitalkapazität etc.) oder
strukturelle Veränderungen im MRT des Gehirns oder objektivierbare
Schädigungen des peripheren oder zentralen Nervensystems. Bei 85,8 % der
Erkrankten konnten in der umfangreichen neurologischen Diagnostik keine
konkreten Befunde ermittelt werden. In seltenen Fällen wurden andere
spezielle neurologische Erkrankungen diagnostiziert (z. B.
Gefäßerkrankungen, Entzündungen, Multiple Sklerose), besonders bei
vorhandenen sensorischen oder motorischen Beschwerden. Auffällige Befunde
ergaben sich vermehrt im Bereich der Psychosomatik. Die Betroffenen hatten
im PHQ15-Fragebogen („Patient Health Questionnaire 15“) hohe
Somatisierungsscores, die mit den kognitiven Defiziten und dem Ausmaß der
Müdigkeit korrelierten. Vorbestehende Somatisierungsstörungen sowie
frühere psychische Erkrankungen schienen ein Risikofaktor für Post-
COVID-19 zu sein.

„Diese Studie wurde teilweise in den Medien und sozialen Medien so
interpretiert, als zweifelte man die Existenz des Post-COVID-Syndroms an“,
konstatiert Prof. Dr. med. Lars Timmermann, stellvertretender Präsident
der DGN. „Die DGN liest die Daten jedoch nicht so – die Ergebnisse
bedeuten weder, dass die Post-COVID-Betroffenen psychisch noch, dass sie
eingebildet krank sind. Vorbestehende Somatisierungsstörungen sind aber
offensichtlich ein Risikofaktor für Post-COVID.“

Auch wenn die Essener Studie kein klinisches Korrelat der Erkrankung
finden konnte, gibt es zahlreiche Erhebungen, die verschiedene
Auffälligkeiten nachgewiesen haben: Eine Studie [3] konnte in Plasmaproben
einer kleineren Kohorte von COVID-19- und Long-COVID-Erkrankten bei Long
COVID bis zu zwölf Monate nach der akuten Erkrankung SARS-CoV-2-Spike-
Protein (seltener auch andere Antigene) nachweisen, was die Publizierenden
als Hinweis auf eine Viruspersistenz werteten. Eine andere
Veröffentlichung [4] berichtete von deutlich reduzierten Cortisol-Spiegeln
und einer T-Zell-Erschöpfung bei Long-COVID-Betroffenen. Aktuell fanden
britische und deutsche Forschende in einer Fall-Kontroll-Studie bei
insgesamt 156 im Gesundheitswesen Tätigen während der ersten
COVID-19-Welle im Blut eine spezielle „Proteom-Signatur“ zum Zeitpunkt der
SARS-CoV-2-Serokonversion, die vorhersagen könnte, welche Betroffenen
wahrscheinlich Langzeitfolgen entwickeln werden [5]. Und Daten der in der
Präpandemie-Ära begonnenen UK-Biobank mit cMRT-Befunden vor und nach
COVID-19 bei denselben Personen zeigten im Längsschnitt nach
zwischenzeitlicher SARS-CoV-2-Infektion einen Rückgang der grauen Substanz
im orbitofrontalen Kortex und parahippocampalen Gyrus [6].

„Post-COVID ist keine Fiktion, Fakt ist aber: Wir wissen noch immer wenig
über die Entstehung und Ursachen von Post-COVID. Mit den klassischen
Untersuchungen wie in der Studie aus Essen [2] ist die Erkrankung
offensichtlich nicht zu objektivieren“, schlussfolgert Prof. Timmermann.
„Uns fehlen verlässliche Biomarker und ohne Wissen um die Ursache und
Entstehungsmechanismen kann nicht an kausalen Therapien gearbeitet
werden.“

Ganz machtlos gegen Post-COVID sei man dennoch nicht: „Derzeit bleibt die
Prävention ein wichtiges Mittel, also die Impfung – denn selbst nach
Impfdurchbrüchen ist die Wahrscheinlichkeit, Post-COVID zu bekommen, bei
Geimpften geringer als bei Ungeimpften.“ Der Experte verwies auf eine
Studie [7], bei der das Long-COVID-Risiko (Prävalenz) mit der Zahl der
Impfungen deutlich abnahm, von 41,8 % bei Ungeimpften auf bis 16 % bei
Dreifach-Geimpften. „Auch aus diesem Grund möchten wir uns der Empfehlung
des Robert Koch-Instituts für regelmäßige Auffrischungsimpfungen
anschließen.“

[1] Fleischer M, Szepanowski F, Tovar M et al. Post-COVID-19 Syndrome is
Rarely Associated with Damage of the Nervous System: Findings from a
Prospective Observational Cohort Study in 171 Patients. Neurol Ther 2022
Aug 26; 1-21
[2] Xu E, Xie Y, Al-Aly Z. Long-term neurologic outcomes of COVID-19. Nat
Med 2022 Sep 22. doi: 10.1038/s41591-022-02001-z. Online ahead of print.
[3] Swank Z, Senussi Y, Manickas-Hill Z et al. Persistent circulating
SARS-CoV-2 spike is associated with post-acute COVID-19 sequelae. Clin
Infect Dis 2022 Sep 2: ciac722
[4] Klein J, Wood J, Jaycox J et al. Distinguishing features of Long COVID
identified through immune profiling. medRxiv [Preprint]. 2022 Aug
10:2022.08.09.22278592
[5] Captur G, Moon JC, Topriceanu CC et al. Plasma proteomic signature
predicts who will get persistent symptoms following SARS-CoV-2 infection.
EBioMedicine 2022 Sep 27; 104293 doi: 10.1016/j.ebiom.2022.104293.
[6] Douaud G, Lee S, Alfaro-Almagro F et al. SARS-CoV-2 is associated with
changes in brain structure in UK Biobank. Nature 2022 Mar 7.
https://www.nature.com/articles/s41586-022-04569-5
[7] Azzolini E, Levi R, Sarti R et al. Association Between BNT162b2
Vaccination and Long COVID After Infections Not Requiring Hospitalization
in Health Care Workers. JAMA 2022 Aug 16; 328 (7): 676-678

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