Pin It

Multiresistente Keime werden durch zunehmende Anibiotikaresistenzen zu
einer immer größeren Herausforderung in der Medizin. Ein Ausweg könnten
Bakteriophagen sein. Diese wurden am Universitätsklinikum Regensburg (UKR)
nun erstmalig bei einem ukrainischen Kriegsverletzten eingesetzt.

Ihor S. (Name geändert) hat schon vor dem offiziellen Kriegsbeginn für
sein Land gekämpft. Im Dezember 2021 geriet der Ukrainer bei
Kampfhandlungen im Donbas unter Raketenbeschuss. Ein Granatsplitter
zerstörte sein linkes Bein unterhalb der Leiste. Schwerverletzt wurde er
in der Ukraine erstversorgt. Allerdings waren durch die Explosion Keime in
seine Wunde geraten, was in einer folgenschweren Wundinfektion endete. Es
begann eine Odyssee. Seit Januar 2022 ist der 42-Jährige fast
ununterbrochen in klinischer Behandlung und wurde bis heute etwa 50 Mal
operiert. Im Juni 2022 kam Ihor, organisiert vom Bundesamt für
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, mit einem der ersten
Verletztentransporte aus der Ukraine nach Deutschland. Zunächst wurde er
in einem anderen Krankenhaus versorgt. Als dort aber alle Mittel
ausgeschöpft waren, wurde er in die Klinik und Poliklinik für
Unfallchirurgie des UKR verlegt. „Als wir Ihor aufgenommen haben, zeigten
sich zwei schwerwiegende medizinische Herausforderungen. Zum einen hatte
er einen großen und bakteriell infizierten Knochendefekt im linken
Oberschenkel, der bis dato nicht ausreichend versorgt wurde. Zum anderen
hatte er gleich vier hoch antiobiotikaresistente Keime, die immer wieder
zu neuen Infektionen führten“, erläutert Professor Dr. Dr. Volker Alt,
Direktor der Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie des UKR. „Wir haben
uns deswegen im Rahmen eines individuellen Heilversuchs dazu entschieden,
Ihor mit Bakteriophagen zu behandeln, um für ihn die Chance der
Infektionskontrolle zu erhöhen.“ Die Phagentherapie ist in Deutschland
bislang nicht als Standardtherapie zugelassen. Für Ihor war es aber die
letzte Möglichkeit, sein Bein zu retten. „Wie es momentan aussieht, mit
Erfolg: nach fast einem Jahr Krankenhausaufenthalt kann er jetzt endlich
in eine Reha-Einrichtung entlassen werden“, so Professor Alt.

Bakteriophagen-Therapie erfährt neuen Aufschwung

Die Therapie mit Bakteriophagen ist keineswegs neu. Ihre Wirkung ist schon
seit mehr als 100 Jahren bekannt. Mit Entdeckung des Antibiotikums wurden
die Viren aber in Westeuropa als Therapiemittel verdrängt. Weltweit
führend im Umgang mit Bakteriophagen ist heute das Georg-Eliava-Institut
in Georgien, das auch die Phagen für Ihor züchtete. Bakteriophagen haben
wie alle Viren keinen eigenen Stoffwechsel und sind somit auf einen Wirt
angewiesen. Im Fall von Bakteriophagen sind dies Bakterien. Die Phagen
geben ihre DNS in das Bakterium ab und zwingen es so, selbst
Bakteriophagen herzustellen, bis das Bakterium zerstört wird und die neu
produzierten Bakteriophagen freisetzt.

In Deutschland werden aktuell Pilotstudien und wie bei Ihor
Einzelfallbehandlungen durchgeführt. „Bakteriophagen könnten allerdings
wieder an Bedeutung zunehmen, denn die rasante Entwicklung von
antibiotikaresistenten Keimen stellt uns in der Medizin weltweit vor eine
große Herausforderung“, erläutert Professor Dr. Dr. André Gessner, Leiter
des Instituts für Mikrobiologie und Hygiene am UKR.

Der Behandlung ging eine ausführliche Analyse voran

Die Behandlung von Ihor S. war mit einer langen und ausführlichen
Vorbereitungszeit verbunden. So wurden Proben seiner Keime in ein Institut
nach Belgien geschickt, welches dann in Kooperation mit den Kollegen in
Georgien nach passenden Phagen suchte. Tatsächlich konnten für zwei von
Ihors Keimen Bakteriophagen gefunden werden. Diese wurden dann im Labor
von Professor Gessner zunächst wissenschaftlich analysiert. Dabei wurde
noch einmal die Passung getestet sowie das Potential und eventuelle
Risiken bewertet.

„Erst als wir uns ganz sicher waren, dass die Phagentherapie das Mittel
der Wahl für Ihor darstellt, haben wir den Eingriff geplant“, kommentiert
Professor Gessner. Die Mediziner wagten dabei ein weiteres Novum. So
werden die Phagen bei offenen Wunden eigentlich in flüssiger Form
eingebracht. Dabei bleiben die Phagen allerdings nicht an Ort und Stelle,
sondern werden über das Blut- und Lymphsystem abtransportiert. In einem
experimentellen Vorgang haben Mediziner aus Lyon deswegen ein spezielles
Gel eingesetzt, welches mit Phagen versetzt in die Wunde gegeben werden
kann. Die Phagen sind durch das Gel gebunden und diffundieren langsam und
über einen Zeitraum von mehreren Tagen aus diesem in die Wunde. „Durch die
gezielte Positionierung versprechen wir uns eine erhöhte Wirksamkeit“,
meint Professor Alt. „Die französischen Kollegen haben uns das Gel für die
Behandlung von Ihor zur Verfügung gestellt, so dass wir bei dieser
Behandlung von einer multinationalen Kooperation sprechen kann.“

Auch aus chirurgischer Sicht herausfordernd

Neben der Phagentherapie war Ihors Operation auch aus chirurgischer Sicht
überaus anspruchsvoll. So wurde der große Knochendefekt im Oberschenkel
durch Knochentransplantate gedeckt. Zum einen wurde dabei ein etwa zwanzig
Zentimeter langes Knochenstück aus dem Wadenbein des ukrainischen
Patienten verwendet. Zum anderen wurden Hüftgelenksköpfe von Spendern
verarbeitet, die entnommen werden, wenn künstliche Hüftgelenke eingesetzt
werden. Nachdem die Knochen in Ihors Oberschenkel chirurgisch ersetzt
waren, wurde das Phagengel in die Wunde injiziert. „Da wir wissen, dass
sich Bakterien insbesondere an den metallischen Schrauben und Platten
sammeln, die zur Stabilisation der Knochen eingebracht werden, haben wir
das Gel vor allem dort aufgebracht“, erklärt Professor Alt. Bezüglich der
zwei weiteren Keime, für die keine Bakteriophagen gefunden wurden, wurden
die letzten zur Verfügung stehenden Antibiotika ebenfalls direkt in die
Wunde gegeben.

Bakteriophagen werden weiter erforscht

Um den vielversprechenden Einsatz von Bakteriophagen weiter zu verfolgen,
ist die Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie auch weiterhin in diesem
Gebiet aktiv. So wird hier gerade das bei Ihor zum Einsatz gekommene Gel
hinsichtlich seiner Eigenschaften als geeignetes Trägermaterial für
Bakteriophagen erforscht. Dieses wissenschaftliche Projekt wird auch von
der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie mit dem erstmalig
vergebenen Preis zur Forschungsförderung translationaler
Kooperationsprojekte gefördert.

Für Ihor S. geht nun ein großer Weihnachtswunsch in Erfüllung. Nach dem
großen Eingriff konnte er letzte Woche mit einer gut verheilten Wunde in
eine Reha-Einrichtung entlassen werden – auch dank der Bakteriophagen.