Überversorgt und trotzdem früher tot - Präventionskrise in Deutschland
Die Lebenserwartung in Deutschland fällt im internationalen Vergleich
auffällig niedrig aus, obwohl sich Deutschland eines der teuersten
Gesundheitssystem der Welt leistet. Angesichts dieses ernüchternden
Ergebnisses fordert die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und
Familienmedizin (DEGAM), den Fokus endlich mehr auf Prävention und
Gesundheitskompetenz zu richten. Dazu gehören: Stärkung der
Hausarztmedizin, Aufwertung der sprechenden Medizin und damit mehr
Gesundheitsberatung, strengere Regeln im Umgang mit Tabak- und
Alkoholwerbung, gesundes Schul- und Kita-Essen, mehr Sportangebote etc.
Bei den Ausgaben für das Gesundheitssystem liegt Deutschland auf den
vorderen Plätzen, bei der Lebenserwartung gehört es zu den
Schlusslichtern. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Max-Planck-
Instituts für demografische Forschung in Rostock, in der die
Lebenserwartung in sechs Ländern mit hohem Einkommen verglichen wurden. Es
zeigten sich erhebliche Unterschiede: In den bestplatzierten Ländern
(Frauen: Spanien, Männer: Schweiz) werden die Menschen im Durchschnitt
gleich mehrere Jahre älter als in Deutschland. In Deutschland ist, so die
Studie, vor allem die erhöhte Anzahl von Todesfällen aufgrund
kardiovaskulärer (Herz-Kreislauf-)Erkrankungen auffällig.
Gerade angesichts der immensen Ressourcen, die hierzulande für die
Gesundheit ausgegeben werden, müssen diese Zahlen aufrütteln: In
Deutschland arbeiten überdurchschnittlich viele Ärztinnen und Ärzte,
gleichzeitig gibt es mehr Krankenhaus- und Intensivbetten als in fast
allen anderen verglichenen Ländern. Trotzdem sterben die Menschen in
Deutschland früher.
„Wir setzen uns seit Jahren für mehr Prävention ein. Es wäre schon viel
gewonnen, wenn die sprechende Medizin aufgewertet wird, so dass den
hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen endlich mehr Zeit für die
Gesundheitsberatung zur Verfügung steht. Anders wird es nicht gelingen,
gerade Risikogruppen zu erreichen. Das geht nur im Gespräch“, kommentiert
Prof. Martin Scherer, Präsident der DEGAM. „In Deutschland gibt es ein
krasses Missverhältnis: Die Anzahl der Arztkontakte pro Person ist extrem
hoch – aber die Zeit pro Patient/in, um gesundheitsförderndes Verhalten zu
besprechen, viel kürzer als in den verglichenen Ländern.“
Echte Prävention ist zudem viel mehr als eine medizinische – sie ist eine
gesellschaftspolitische Aufgabe: „Deutschland ist führend im Pro-Kopf-
Verbrauch von Zucker, hat immer noch eine überdurchschnittliche Alkohol-
und Raucherquote (und als eines von wenigen Ländern weiterhin kein
Werbeverbot für Zigaretten) und einen viel zu hohen Anteil an
übergewichtigen und adipösen Menschen. Bei der Ernährung fällt die hohe
Rate an tierischen Produkten auf. Auch bei der Bewegung gibt es Defizite,“
ergänzt Dr. Thomas Maibaum, stellvertretender Sprecher der DEGAM-Sektion
Prävention.
Gleichzeitig warnt die Fachgesellschaft davor, die Verantwortung alleine
bei den Betroffenen abzuladen. „Es ist seit Jahren bekannt, dass eine
reine Verhaltensprävention in erster Linie die Menschen erreicht, die
sowieso schon gesundheitsbewusst leben. Bei der Verhältnisprävention, über
die seit Jahren diskutiert wird, kommt Deutschland weder bei der Forschung
noch in der Praxis der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (Public Health)
wirklich voran. Erste und längst überfällige Schritte wären: Einführung
Zuckersteuer, Werbeverbot für Tabakprodukte, Raucherentwöhnung als
Kassenleistung, Subventionierung von gesunder Ernährung in Kindergarten
und Schule und mehr Sportangebote für jede Altersstufe“, fordert Martin
Scherer. „Nur so können wir bei der Lebenserwartung zumindest den
internationalen Durchschnitt erreichen.“
Hinsichtlich der Konsequenzen der Studie sieht die Autorengruppe
insbesondere Defizite in der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Die DEGAM geht davon aus, dass die kardiovaskuläre Krankheitslast auch
medikamentös effektiver reduziert werden kann: „Bei Menschen mit hohem
absoluten und relativen Herzinfarkt-Risiko sollten verstärkt Statine
verschrieben werden“, fasst Dr. Uwe Popert, Sprecher der DEGAM-Sektion
Hausärztliche Praxis, den aktuellen Wissensstand zusammen. „In Deutschland
liegt die Indikationsgrenze derzeit bei einem 20-prozentigen Risiko, dass
innerhalb von 10 Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis (zum Beispiel
Herzinfarkt) auftritt. Im europäischen Ausland liegt die
Indikationsschwelle meist bei 10 Prozent. Auch Deutschland sollte diesen
Wert insbesondere für Jüngere bei 10 Prozent ansetzen, um eine
problematische Verzögerung der Behandlung zu vermeiden.“
Quellen:
Jasilionis, D., van Raalte, A.A., Klüsener, S. et al. The underwhelming
German life expectancy. Eur J Epidemiol (2023).
https://doi.org/10.1007/s10654
DEGAM-Leitlinie zur Kardiovaskulären Prävention:
https://tinyurl.com/y5sn6jp9