Neue Alzheimer-Therapien stellen Gesundheitsbudget und Versorgungsstrukturen vor enorme Herausforderungen
Neurodegenerative Erkrankungen wie M. Alzheimer und M. Parkinson nehmen
zu, z.T. sogar mehr, als durch die Überalterung der Gesellschaft erklärt
werden kann. In jüngster Zeit wurden im Bereich der Alzheimerbehandlung
verschiedene Durchbrüche vermeldet. Doch die Therapiekosten sind hoch,
ebenso die Anzahl derjenigen, die für diese Behandlungen in Frage kommen.
Und selbst wenn genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stünden, bleiben
enorme versorgungsstrukturelle Herausforderungen, die zeitnah gelöst
werden müssen. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie mahnt gemeinsam
mit den Berufsverbänden an, dass nun die Gesundheitspolitik handeln muss.
Fast 8,5 Prozent aller deutschen Bundesbürger im Alter über 65 Jahren
waren laut Angabe des statistischen Bundesamts im Jahr 2021 von einer
Demenz betroffen [1]. Aufgrund des demographischen Wandels ist in den
kommenden Jahren mit einem weiteren Anstieg zu rechnen – denn in einer
alternden Gesellschaft nimmt die absolute Zahl von altersassoziierten
Erkrankungen wie Alzheimer- oder Parkinson-Erkrankung natürlich weiter zu
[2, 3]. Hinzu kommt, dass der Anstieg der Neuerkrankungsrate an
neurodegenerativen Erkrankungen sogar noch höher ist, als sich allein
durch Alterung der Gesellschaft erklären ließe. Als Ursache werden hier
Umwelt- und Lebensstilfaktoren diskutiert. Gleichzeitig steigt die
Lebenserwartung weiter an, so dass sich unsere Gesellschaft auf einen
großen Zuwachs an Menschen mit chronischen neurologischen Erkrankungen
einstellen muss.
„Verschärft“ wird die zukünftige Versorgungslage in der Neurologie
dadurch, dass für neurologische „Volksleiden“ wie Alzheimer neue
innovative Therapien auf den Markt kommen, die eine besondere Betreuung
der Patientinnen und Patienten erforderlich machen. Damit Betroffene von
den Therapien profitieren, muss die Behandlung so früh wie möglich
einsetzen – bevor das Vollbild einer Alzheimer-Erkrankung erreicht ist.
Bei den ersten kognitiven Einschränkungen muss geklärt werden, ob
tatsächlich Alzheimer zugrunde liegt. Hierfür sind eine spezialisierte
neuropsychologische, bildgebende und laborchemische Diagnostik
einschließlich Nervenwasser- (Liquor-) Untersuchung erforderlich. Nun
rechtfertigen Lumbalpunktionen keine stationäre Aufnahme im Krankenhaus,
werden aber auf der anderen Seite nicht flächendeckend in den
Facharztpraxen angeboten. Nach der Diagnose bedarf es einer umfassenden
Patientenaufklärung über die Therapien, und die Infusion der Medikamente
muss spezialfachärztlich überwacht werden. Sowohl die Diagnostik als auch
die Therapie werden so zu einem „Stress-Test“ für die ambulanten
neurologischen Versorgungsstrukturen, qualitativ und quantitativ.
„Alle Betroffenen haben Anspruch auf eine leitliniengerechte Therapie“
betont Dr. med. Uwe Meier, Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher
Neurologen (BDN). „Es wird zukünftig eine große Herausforderung, all diese
Menschen auch in der Fläche gut zu versorgen“, bestätigt Dr. med. Klaus
Gehring, Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte (BVDN).
Wie Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie (DGN), weiter ausführt, müssen für eine flächendeckende
Versorgung zeitnah qualitativ hochwertige Diagnostik- und Therapie-
Strukturen an neurologischen Kliniken und in Facharztpraxen geschaffen
werden. „Bei Zulassung der neuen Alzheimer-Medikamente, die in wenigen
Monaten zu erwarten sein dürfte, brauchen wir nicht nur ausreichend viele
Infusionsplätze in Ambulanzen, Praxen und MVZs, sondern auch speziell
geschultes und ausgebildetes Personal sowie ein entsprechendes
Frühdiagnostik-Angebot mit den dafür notwendigen Labor- und
Bildgebungskapazitäten.“
Der Fortschritt in der Therapie bringt aber auch noch eine ganz andere
Herausforderung mit sich, der nun begegnet werden müsse. „Die neuen
Therapien sind per se kostenintensiv, hinzu kommen die Zusatzkosten für
Diagnostik, Infrastruktur und Personal – und im Fall von Alzheimer
sprechen wir nicht von einer seltenen Erkrankung“ betont Prof. Berlit.
„Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie sieht ihre Aufgabe darin,
wissenschaftlich belegte Diagnostikkriterien anzuwenden, damit diejenigen
die Behandlung erhalten, die davon profitieren und bei denen die Nutzen-
Risiko-Relation günstig ist. Dafür ist die Einrichtung von
Gedächtnisambulanzen und -praxen dringend erforderlich.“
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schätzt die Zahl der
Demenzneuerkrankungen pro Jahr auf über 430.000 Fälle [4] und etwa bei
Dreiviertel aller Demenzfälle liegt eine Alzheimer-Erkrankung zugrunde.
Eine Arbeit aus dem Juni dieses Jahres rechnet vor, dass für eine Therapie
mit dem Antikörper Lecanemab in 27 europäischen Ländern insgesamt 5,4
Millionen Patienten in Frage kommen, was zu jährlichen Therapiekosten in
Höhe von 133 Milliarden Euro führen würde [5]. Die jährlichen
Therapiekosten pro Patientin/Patient werden auf knapp 25.000 Euro
beziffert. In Abhängigkeit von der Zahl behandelter Patientinnen und
Patienten pro Jahr würden Alzheimertherapeutika rasch Rang 1 der
verordnungsstärksten Arzneimittelgruppe belegen und noch vor den Ausgaben
für Krebsmedikamente liegen [6]. Hinzu kämen die erforderlichen
Investitionen in die Versorgungsstruktur.
Die DGN und die Berufsverbände sind sich einig: „Das sind Ausgaben, die
gesamtgesellschaftlich konsentiert sein müssen und es fehlt eine
öffentliche Debatte zu diesem wichtigen Thema. Hier ist nun die
Gesundheitspolitik gefordert – denn es muss geklärt werden, wie wir die
Versorgung in der Fläche und die Bezahlbarkeit sicherstellen können“.
[1] Mittlere Prävalenzrate von Demenzerkrankungen nach Alter und
Geschlecht im Jahr 2021. Abrufbar unter
https://de.statista.com/statis
/praevalenzrate-von-demenzerkr
geschlecht/
[2] Feigin VL, Nichols E, Alam T et al. Global, regional, and national
burden of neurological disorders, 1990-2016: a systematic analysis for the
Global Burden of Disease Study 2016. GBD 2016 Neurology Collaborators.
Lancet Neurol 2019; 18 (5): 459-480
[3] Dorsey ER, Elbaz A, Nichols E et al. Global, regional, and national
burden of Parkinson's disease, 1990-2016: a systematic analysis for the
Global Burden of Disease Study 2016. Lancet Neurol 2018; 17 (11): 939-953
[4] https://www.alzheimer-bw.de/fi
/Infoblaetter-
DAlzG/infoblatt1_haeufigkeit_d
[5] Jönsson L, Wimo A, Handels R et al. The affordability of lecanemab, an
amyloid-targeting therapy for Alzheimer's disease: an EADC-EC viewpoint.
Lancet Reg Health Eur. 2023 May 22;29:100657. doi:
10.1016/j.lanepe.2023.100657. PMID: 37251789; PMCID: PMC10220264
[6] Bundesministerium für Gesundheit. Daten des Gesundheitswesens 2020. S.
72.
https://www.bundesgesundheitsm