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Ein neu entwickeltes Medikament bringt Hoffnung für MS-Patientinnen und
-Patienten. // Mithilfe eines neuartigen Molekül-Shuttles können
Antikörper direkt ins Gehirn transportiert werden. // Das MS-Zentrum am
Uniklinikum Dresden beteiligt sich an einer weltweiten Studie zur
Sicherheit.

Mit der Diagnose Multiple Sklerose ist für Patientinnen und Patienten
eines klar: Sie leiden an einer unheilbaren Krankheit. Rund 280.000
Deutsche kämpfen mit der Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem das
eigene zentrale Nervensystem angreift. Im Zentrum für Multiple Sklerose
(MS) am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden wird nun erstmals
ein Medikament getestet, das die Abwehrzellen des Körpers mithilfe von
Antikörpern dort abtötet, wo sie Schaden anrichten: im Gehirn.
Problematisch war bislang, die Antikörper über die natürliche
Schutzbarriere des Gehirns hinweg direkt dorthin zu transportieren, wo die
körpereigenen B-Zellen im Falle einer MS-Erkrankung für Entzündungen
verantwortlich sind. Bei dem neuartigen Medikament macht sich die
Forschung nun die Eigenschaften von speziellen Proteinen zunutze, wobei
man den Antikörper mit einem Transport-„Shuttle“-Eiweiß verknüpft. Am
Uniklinikum nimmt bereits die zweite MS-Patientin an einer Phase-I-Studie
teil.

Mehr als 2.000 Patientinnen und Patienten werden am Multiple-Sklerose-
Zentrum des Universitätsklinikums Dresden behandelt. Eine von ihnen ist
Ivonne Dähn: Dass sie unter Multipler Sklerose leidet, stellt sich vor gut
20 Jahren heraus. Doch der Weg bis zur Diagnose war lang, ihr gingen Jahre
der Unsicherheit voraus, in denen Ivonne Dähn nicht weiß, was ihr
eigentlich fehlt. Alles begann mit einem Schleier auf ihrem Auge, später
kam hinzu, dass ihre Beine schwächer wurden, sie das Radfahren aufgeben
musste, sich ihr körperlicher Zustand weiter verschlechterte. Eine MRT-
Untersuchung brachte Ivonne Dähn nach Jahren in einem Schwebezustand
schließlich die Gewissheit: Sie leidet unter Multipler Sklerose.
Tatsächlich ist die Erkrankung in einigen Fällen sehr schwer zu
diagnostizieren und wird deshalb auch als „Krankheit der 1.000 Gesichter“
bezeichnet. Es gibt unterschiedliche Symptome, die in Schüben oder
schleichend auftreten können, die Bandbreite ist groß. Seit 2018 ist
Ivonne Dähn Patientin am MS-Zentrum im Uniklinikum Dresden. Nach der
Diagnose musste sie ihren Job als pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin
in der Apotheke aufgeben, brachte vor 13 Jahren aber einen gesunden Jungen
zur Welt und bewältigt seitdem das Familienleben gemeinsam mit ihrem Mann
- so gut es geht. Ein kleines Elektromobil oder ein Gehstock sind ihre
stetigen Begleiter. Sport gehört ebenso zu ihrem Alltag, um die Muskeln zu
kräftigen.

Multiple Sklerose ist derzeit nicht heilbar. Mittels Medikamenten ist es
zumindest möglich, die Entzündungsschübe abzuschwächen oder hinauszuzögern
– mithilfe moderner Therapien kann die Mehrzahl der Patientinnen und
Patienten stabilisiert werden, ohne dass es zu einem Fortschreiten der
Erkrankung kommt. Akute Schübe werden mit Kortison behandelt, während eine
Immuntherapie heute häufig auf Antikörper setzt, die die aggressiven
Immunzellen des Körpers eliminieren oder blockieren. Ivonne Dähn leidet
unter einer langjährigen MS, bei der keine Schübe auftreten. Diese Form
ist besonders schwierig zu behandeln, weil im Gehirn chronische Prozesse
ablaufen. Hier setzt ein neues Medikament an, das den Körper „austrickst“
und genau dort wirken soll, wo die entzündlichen Prozesse stattfinden. Ein
Hoffnungsschimmer für viele MS-Patientinnen und -Patienten.

Prof. Tjalf Ziemssen, Direktor des Zentrums für klinische
Neurowissenschaften und Leiter des MS-Zentrums, begleitet in Kooperation
mit der Firma Roche eine weltweite Studie, bei der dieses neu entwickelte
Medikament erstmals überhaupt an Patientinnen und Patienten verabreicht
wird. „Als MS-Zentrum haben wir personell und technisch die besten
Voraussetzungen und optimalen Möglichkeiten, eine solch wichtige
Medikamentenstudie zu realisieren“, sagt Prof. Ziemssen. Ivonne Dähn hat
sich freiwillig für die erste Testphase gemeldet und wird dabei engmaschig
vom Team um Prof. Ziemssen betreut. Studienschwestern nehmen regelmäßig
Blutproben, auch das Gehirnwasser wird im Zuge der Studie mehrmals
untersucht und das Wohlbefinden der Patientin dokumentiert.

Die aufwendige Prozedur nimmt Ivonne Dähn in Kauf, denn sie möchte die
Erforschung der Krankheit und möglicher Gegenmittel unterstützen. Ob sie
selbst von dem neuen Medikament profitiert, ist ungewiss. „Ich habe nichts
zu verlieren“, sagt die 45-Jährige, die im Vogtland wohnt und mehrmals
wöchentlich ans Uniklinikum nach Dresden kommt. Das neue Medikament
verträgt sie gut. Die Untersuchungen seien nicht immer schmerzfrei, räumt
Ivonne Dähn ein. „Aber ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe. Und ich
möchte anderen helfen“, sagt sie. Prof. Ziemssen betont, wie wichtig die
Bereitschaft von Patientinnen und Patienten ist, an derartigen Studien
teilzunehmen. Auch wenn das Medikament ihnen selbst in dieser frühen
Testphase womöglich gar nicht hilft.

Protein-Shuttle überwindet Schutzbarriere des Gehirns

Bei dem neuen Medikament fungieren Protein-Moleküle als eine Art Shuttle,
das – bestückt mit dem Antikörper – die Barriere zwischen Gefäß und Gehirn
überwindet. Dort, wo die B-Zelle des eigenen Immunsystems an entzündlichen
Prozessen im Gehirn beteiligt ist, hofft man, dass der Antikörper die
B-Zelle gezielt ausschalten kann. Ob dies tatsächlich genauso
funktioniert, wie sich das die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
vorstellen, muss mithilfe von an MS erkrankten Menschen getestet werden.
Dafür wird nun zunächst in der Phase-I-Studie überprüft, wie verträglich
das Medikament ist. Weil dabei eine geringe Dosis verabreicht wird, um die
Patientinnen und Patienten nicht zu gefährden, entfaltet das Medikament
mit großer Wahrscheinlichkeit noch nicht seine volle Wirkung. Verläuft
diese Testphase erfolgreich, wird in den nächsten Phasen die Dosis erhöht,
bis die passende Menge des Medikaments ermittelt ist. Danach erfolgt dann
die mehrmalige Gabe des Medikaments im Rahmen der aktuellen Studie, für
die in Dresden noch weitere Patientinnen und Patienten gesucht werden.
Erst dann erfolgen Phase-II- und -III-Studien, die Basis für die Zulassung
des Medikamentes sind.

„Die Hochschulmedizin Dresden steht für enge Verzahnung von
Patientenversorgung und Forschung“, sagt Prof. Michael Albrecht,
Medizinischer Vorstand am Universitätsklinikum. „Durch die große Expertise
in der Behandlung von MS-Erkrankten ist das Uniklinikum optimal
aufgestellt, um derart wichtige Studien zu begleiten. Wir sind dankbar für
das große Vertrauen unserer Patientinnen und Patienten, die wie in diesem
Fall die Entwicklung neuer Medikamente unterstützen und dafür sogar sehr
weite Wege in Kauf nehmen.“