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Prof. Dr. Annette Brauerhoch im Filmraum der Universität Paderborn.  Universität Paderborn, Simon Ratmann
Prof. Dr. Annette Brauerhoch im Filmraum der Universität Paderborn. Universität Paderborn, Simon Ratmann

Am 24. Februar blickte die Welt wieder gespannt nach Hollywood: Zum 91. Mal
wurden die Oscars verliehen. Filmwissenschaftlerin Prof. Dr. Annette
Brauerhoch spricht im Interview über das internationale Standing des
deutschen Films, den aktuellen Erfolg mexikanischer Filmschaffender und
das erneute Fehlen von Regisseurinnen auf der Nominiertenliste für die
„Beste Regie“.

Frau Brauerhoch, wie beurteilen Sie das derzeitige Niveau des
internationalen Films?

Brauerhoch: Um einen Eindruck vom internationalen Film zu bekommen, ist
man mittlerweile auf Festivalbesuche angewiesen, wie z. B. die
„Berlinale“, aber auch auf zum Teil spezialisierte Filmfestivals. Davon
gibt es alleine in Deutschland Dutzende, wie die „Internationalen
Kurzfilmtage Oberhausen“, die Dokumentarfilmfestivals in Leipzig und
Duisburg, das „Lichter Filmfest“ und „Nippon Connection“ in Frankfurt,
„GoEast“ und „Exground“ in Wiesbaden und viele andere mehr. In die großen
kommerziellen Kinos kommen die wenigsten Filme und was wir dort zu sehen
bekommen ist diktiert von Verleihstrukturen – da haben die Kinos kaum
Spielraum für eigene Entscheidungen oder Programmgestaltung. Eine
Alternative bieten Programmkinos, aber viele Städte, darunter Paderborn,
haben leider keines. Die Frage lässt sich also nicht adäquat beantworten,
da vom internationalen Filmschaffen sehr wenig in unseren Kinos vertreten
ist. Filme aus Japan, Korea, China, den Philippinen oder aus dem Iran, der
Türkei und Russland, um nur ein paar wenige Länder zu nennen, sind z. B.
in Cannes gut vertreten. Für eine Kinoauswertung verlassen sich die
Verleiher allerdings nach wie vor lieber auf Hollywood bzw. ist die Macht
der Verleiher für Hollywood-Filme besonders groß. Es geht also weniger um
Niveau, sondern mehr um Macht und Ohnmachtstrukturen.

Der Film „Roma“ des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón gilt als einer
der Oscar-Favoriten. Cuarón ist in der Kategorie „Beste Regie“ nominiert,
Yalitza Aparicio und Marina de Tavira, zwei Schauspielerinnen des Films,
in den Kategorien „Beste Haupt- und Nebendarstellerin“. 2014, 2015, 2016
und 2018 erhielt ein Mexikaner den Oscar für „Beste Regie“. Wie erklären
Sie sich diesen Erfolg mexikanischer Filmschaffender?

Brauerhoch: In Zeiten der Migration ist dies tatsächlich aussagekräftig
für eine Branche, die auf ein Gespür für die Sensibilitäten ihres
Publikums angewiesen ist. Lateinamerikaner bilden in den USA die
zweitgrößte ethnische Gruppe, fast 65 Prozent davon sind Mexikaner. Die
Auszeichnungen und Nominierungen sprechen aber auch für die verbindende
und produktive Kraft geteilter und gemeinsamer kultureller Erfahrungen:
Die drei Oscar-prämierten Regisseure Alfonso Cuarón, Alejandro González
Iñárritu und Guillermo del Toro sind miteinander befreundet, sie
unterstützen sich gegenseitig. Das Aufweichen der „weißen Oscars“ haben
zudem die schwarzen US-Amerikaner vorangetrieben – denken Sie an die
berühmte Ansprache von Chris Rock als Moderator der Academy Awards 2016.
Yalitza Aparicio ist die erste indigene Mexikanerin, die für den Preis als
beste Hauptdarstellerin nominiert ist. Salma Hayek, die 2002 für „Frida“
nominiert wurde, ist Mexikanerin und US-Amerikanerin, sie selbst
beschreibt sich als halb spanisch, halb libanesisch.

Die Nominierung von „Roma“ kann man als Ausdruck einer Form von versuchter
„political correctness“ sehen und als Ehrfurcht vor der Inszenierung des
Films in schwarz-weiß, was sofort einen gewissen Automatismus auslöst,
darin „Kunst“ zu sehen. Gemessen an anderen Oscar-Nominierungen wie
beispielsweise „A Star is born“ hat er aber wirklich eindrucksvolle
ästhetische Qualitäten, die allerdings eigentlich die große Leinwand
brauchen, um angemessen gewürdigt werden zu können. Mit „Roma“ wird ja ein
Film nominiert, der als Netflix-Produktion kaum eine Kinoauswertung
erfährt und die Debatte über das Verhältnis von Streaming-Angeboten und
Kinowahrnehmung weiter befeuert.

In den Königsdisziplinen „Beste Regie“ und „Beste Kamera“ sind wieder
einmal ausschließlich Männer nominiert. Was sagt das über das derzeitige
Filmbusiness aus?

Brauerhoch: Es ist ein klares Armutszeugnis. Auf einer alternativen
Oscarliste (https://www.dazeddigital.com/film-tv/article/43019/1/oscars-
nominations-women-directors-snubbed
) werden so wichtige Namen und
wunderbare, interessante Filme wie Debra Graniks „Leave no Trace“, Lynne
Ramsays „You Were Never Really Here“ oder Claire Denis „Let the Sunshine
In“ genannt. Ich befürchte, dass „I Am Not a Witch“ von Rungano Nyoni, der
z.B. auf dem „Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund/Köln“ lief,
sowie „Madeline’s Madeline“ von Josephine Decker, „Private Life“ von
Tamara Jenkins, „The Miseducation of Cameron Post“ von Desiree Akhavan,
„Nancy“ von Christina Choe und „Oh, Lucy!“ von Atsuko Hirayanagi eher
unbekannt und ungesehen bleiben werden. 2010 war Kathryn Bigelow in der
Geschichte der Academy Awards die erste Frau, die einen Oscar für die
beste Regie bekam. Eine schwarze Regisseurin wurde noch nie nominiert. Die
91. Oscars werden die 86. sein, die ohne weibliche Nominierung für „Beste
Regie“ aus-kommen.

Florian Henckel von Donnersmarck ist mit seinem Film „Werk ohne Autor“ in
der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert. Davon abgesehen:
Wie steht der deutsche Film aktuell im internationalen Vergleich da?

Brauerhoch: Der deutsche Film hat durch den Nationalsozialismus einen so
heftigen Einbruch erfahren, dass die deutsche Filmgeschichte und ihr
„Versagen“, milder ausgedrückt ihre Eigenheit, nicht ohne diesen
Einschnitt zu denken ist. Hinzu kommt ein höchst komplexes und
kompliziertes Filmförderverfahren und -abkommen, an das die Filme – unter
Vernachlässigung des Publikums – angepasst werden. Das radikale Abwerten
von Film als „Unterhaltung“ gegenüber einer sogenannten „ernsten Kultur“
gibt es in anderen europäischen Ländern nicht, die ihre Cinematografien
und Filmbildung stärker fördern und pflegen, allen voran Frankreich, aber
auch Italien, Polen und andere osteuropäische Länder. Die Kinokultur, auch
gemessen an Kinobesuchen, hinkt in Deutschland anderen europäischen
Ländern hinterher, für die Kino selbstverständlich die große Kunstform des
20. Jahrhunderts ist.

Wie lautet Ihr persönlicher Filmtipp?

Brauerhoch: Mehr ins Kino gehen.