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Soziologe Detlef Pollack: Identifikation mit Orthodoxie und Nationalstolz
in Russland in vergangenen Jahrzehnten rasant gestiegen – Kopplung von
Kirche und Staat begünstigt Unterstützung für Putin – Patriarch und
Präsident geeint im Geschichtsbild und in der Ablehnung westlicher Werte –
„Hochgefährliches Gefühl der Demütigung einer einstigen Großmacht“

Die enge Allianz von Kirche und Staat in Russland fördert Forschern
zufolge die Akzeptanz für Putins Regime und Krieg. „Die große Nähe von
Präsident und Patriarch trifft auf eine Bevölkerung, deren Religiosität in
den vergangenen Jahren rasant gewachsen ist, verbunden mit gestiegenem
Nationalstolz. Gemeinsame Auftritte von Putin und Kirill I. haben daher
eine hohe symbolische Kraft“, sagt der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef
Pollack vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. Die
Zahl derer, die sich mit der Orthodoxie identifizieren, stieg demnach von
1990 bis 2020 von einem Drittel auf mehr als zwei Drittel der Bevölkerung,
die Zahl der Gläubigen gar von 44 auf 78 Prozent. „Nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion wurde die Kirche zum Hoffnungsträger einer gedemütigten
Nation.“ Heute stütze der Patriarch Putins Krieg gegen die Ukraine, indem
er „böse Mächte“ für ihn verantwortlich mache, so Pollack. „Der Angriff
Russlands wird damit entpolitisiert und metaphysisch erhöht. Mit der
Rechtfertigung des Krieges als Kampf gegen Gay-Pride-Paraden konstruiert
Kirill ein Argument, um konservative Gläubige für einen ideologischen
Kulturkampf zu gewinnen.“ Zugleich unterstütze Putin die Russisch-
Orthodoxe Kirche auch finanziell. „Gemeinsam kämpfen sie gegen westliche
Werte wie Demokratie und plurale Lebensformen. Sie instrumentalisieren
sich gegenseitig.“

„Der starke Anstieg der Religiosität in Russland geht nicht auf tradierte
Volksreligiosität, familiäre Sozialisation oder soziale Angebote der
Kirche zurück“, so der Forscher, „sondern darauf, dass die orthodoxe
Kirche nach 1992 zum Träger nationaler Identität aufstieg. Seit
Jahrzehnten meint eine Mehrheit, um ein wahrer Russe zu sein, müsse man
orthodox sein.“ Das religiös aufgeladene Nationalbewusstsein sei alles
andere als harmlos. „Die meisten Russen halten die russische Kultur
gegenüber anderen für überlegen.“ Nach dem Ende der Sowjetunion sei der
Nationalstolz in Russland so niedrig wie in keinem anderen ost- und
ostmitteleuropäischen Land gewesen, führt Pollack aus. Inzwischen sei er
rasant gestiegen. „Waren es 1992 nur 13 Prozent, die die Russen als großes
Volk ansahen, dem ein spezieller Platz in der Weltgeschichte zukomme, so
sind es heute 62 Prozent. Parallel nahm die Identifikation mit der
Orthodoxie zu.“ Die Analysen basieren auf dem Grundlagenwerk „Religion in
der Moderne. Ein internationaler Vergleich“, von dem die
Religionssoziologen Prof. Dr. Detlef Pollack und Dr. Gergely Rosta soeben
eine aktualisierte und erweiterte Neuauflage im Campus Verlag
veröffentlicht haben. Es ist eine der umfassendsten empirischen
Untersuchungen religiöser Trends weltweit.

Gegenseitige Instrumentalisierung von Kirche und Staat

Bestärkt wird die religiöse Renaissance in Russland durch die
unübersehbare Allianz zwischen Kirche und Politik, wie Soziologe Pollack
darlegt. „Die orthodoxe Kirche kommt seit Jahren in den Genuss
steuerlicher Privilegien und staatlicher Gelder und wird staatlicherseits
gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt. Immer wieder ist der
Präsident neben dem Patriarchen zu sehen.“ 2007 sei ein neues Schulfach
„Grundlagen der orthodoxen Kultur“ eingeführt worden, das an staatlichen
Schulen für alle Schüler, unabhängig davon, ob sie der Kirche angehören,
Pflichtfach sei. „Umgekehrt ist der Patriarch seit Jahren ein
verlässlicher Unterstützer der politischen Linie des Kreml.“ In einer
seiner jüngsten Predigten bezeichnete Kirill I. die Feinde Russlands als
„Kräfte des Bösen“. Putin und Kirill teilen, wie Pollack ausführt,
offenbar ein ähnliches Weltbild: Russland sei das angegriffene Opfer
westlicher Mächte, der Kampf Russlands ein Kampf des Guten gegen das Böse.
„Kultureller Pluralismus, Homosexualität und Meinungsvielfalt gefährden in
diesem Weltbild die Identität der russischen Kultur. Russland muss sich
schützen und für seine bedrohte Identität eintreten.“

Hinter dem gemeinsamen Kampf von Präsident und Patriarch gegen westliche
Werte steht dem Forscher zufolge der Versuch, Russland zu alter Größe
zurückzuführen. Für Putin und Kirill sei Russland eine große, unbesiegbare
Nation, wie schon der Große Vaterländische Krieg gezeigt hätte. Seit dem
Ende der Sowjetunion aber sei ihre einstige Bedeutung bedroht. „Aus dem
Gefühl der Bedrohung entsteht ein Bedürfnis nach kultureller
Selbstbehauptung, eine hochgefährliche Mischung von Demütigungsgefühlen
und Überlegenheitsansprüchen. Anstatt die Wirtschaftsleistung zu stärken,
verfolgt die Regierung das Projekt einer Stärkung des
Nationalbewusstseins, das die eigene Kultur überhöht und für alle Probleme
im Land den Westen verantwortlich macht, der Russland angeblich nicht
wertschätze“, so Pollack. Hier träfen sich die Geisteshaltungen Putins und
Kirills, denn nach orthodoxer Vorstellung sei Russland ein heiliges Land,
das seit der Taufe der „Kiewer Rus“ im Jahr 988 die Ukraine einschließe
und durch „fremde Kulturen“ nicht entweiht werden dürfe.

Das enge Verhältnis von Staat und Kirche hat in Russland eine lange
Tradition, die bis ins mittelalterliche Byzanz zurückreicht. „Während die
Katholische Kirche im lateinischen Westen zu dieser Zeit oft als
Gegengewicht zum Kaisertum agierte, bildeten Patriarchat und Kaisertum in
Ostrom eine enge Allianz. In der Zeit des Kommunismus, in der es
Verbindungen zwischen Kirche und Geheimdienst gab, verlor die Russisch-
Orthodoxe Kirche ihre Autonomie weitgehend“, erläutert der Soziologe. Nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte nach seinen Worten aber nicht
eine Aufarbeitung der Verstrickungen der orthodoxen Kirche mit dem
kommunistischen Regime, sondern der schnelle Schulterschluss mit den neuen
Machthabern.

Genuin Religiöse mit eher individualistischen Werten bilden eine
Minderheit

Bei den Kirchenmitgliedern sind den Forschern zufolge auch gegenläufige
Tendenzen zu beobachten: „Unter dem Mantel der Politisierung des
Religiösen ist überraschenderweise auch ein Schutzraum für die Ausbreitung
einer verinnerlichten Religiosität entstanden, die eher durch
individualistische als durch konservative Werte charakterisiert ist“, sagt
Pollack. „Besonders Frauengruppen stellen in Russland die Verzahnung von
Staat und Religion in Frage.“ Auch gebe es in der jungen, gebildeten
Bevölkerung eine beachtliche Offenheit für Demokratie und liberale Werte.
„Ob diese Kräfte in Russland an öffentlicher Sichtbarkeit und Bedeutung
gewinnen, hängt zu einem großen Teil vom weiteren Kriegsverlauf ab“, sagt
Pollack.

Im Unterschied zur Russisch-Orthodoxen Kirche haben sich alle drei
orthodoxen Kirchen in der Ukraine gegen den Krieg ausgesprochen: „Neben
der unabhängigen orthodoxen Kirche und der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche
unter dem Kiewer Patriarchat hat sich erstaunlicherweise auch die dem
Moskauer Patriarchat unterstellte orthodoxe Kirche öffentlich gegen den
Krieg gestellt und ihn als ‚Bruderkrieg‘ bezeichnet“, betont der Forscher.
„Aktuell ist noch nicht absehbar, ob der Unmut auch in Russland zunehmen
und dies Kirills Kurs schwächen wird.“

In der Neuauflage des Standardwerks „Religion in der Moderne. Ein
internationaler Vergleich“ werten Detlef Pollack und Gergely Rosta ein so
reichhaltiges Datenmaterial für mehrere Kontinente aus wie kaum eine
andere Religionsstudie. Sie filtern politische, nationale und soziale
Einflussfaktoren auf Religion heraus und stellen einen Bedeutungsrückgang
des Religiösen in vielen modernen Gesellschaften fest. In den vergangenen
zehn Jahren seien dabei dramatische Prozesse der Entkirchlichung und
Säkularisierung in Ländern wie den USA, Italien, Polen und Irland zu
beobachten, in denen zuvor der Glaube noch recht ausgeprägt war. Das stehe
im Gegensatz zu anderen Ländern wie eben Russland, in denen sich ein
religiöser Aufschwung beobachten lasse. In den kommenden Wochen folgt
weiteres Pressematerial über neue zentrale Forschungsbefunde der beiden
Forscher. (apo/vvm)

Originalpublikation:
Detlef Pollack, Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein
internationaler Vergleich („Religion und Moderne“, Band 1), 2.,
aktualisierte und erweiterte Auflage, Frankfurt am Main/New York: Campus
Verlag 2022.