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Betrachtet Fußball aus soziologischer Sicht: Jasper Böing  Foto: FernUniversität
Betrachtet Fußball aus soziologischer Sicht: Jasper Böing Foto: FernUniversität

Egal ob auf dem Bolzplatz, in der Fankurve oder beim Public Viewing – die
Deutschen lieben Fußball. Besonders bei Weltmeisterschaften wird
Begeisterung spürbar: Zu Hunderttausenden finden sich die Menschen in
Stadien, vor Bildschirmen und Leinwänden zusammen, um die 90-minütige
Torjagd zu feiern. Aber warum ist das so? Dr. Jasper Böing, Soziologe an
der FernUniversität in Hagen, deutet den Sport als Ventil.

„Wir leben in einer modernen, ökonomisierten Gesellschaft. Der Alltag wird
zunehmend rationalisiert. In der hochemotional aufgeladenen Arena oder
beim Fußballschauen auf dem Sofa kriegt man dazu einen Ausgleich“, so
Böing. Ein weiterer Grund ist das positive Wir-Gefühl im Kontext von
Sportveranstaltungen. „Man hat ein Gemeinschaftserlebnis, das an relativ
wenige Vorrausetzungen gebunden ist“, erklärt der Sozialwissenschaftler.
„Um dabei zu sein, muss man nicht reich oder besonderes gebildet sein.“

Fans als „Ware“?
Jasper Böing ist seit rund zehn Jahren am Soziologischen Institut der
FernUniversität tätig – anfänglich als Wissenschaftliche Hilfskraft, dann
als Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit 2014 arbeitet er im Lehrgebiet
„Soziologie I: Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie“ von Prof.
Dr. Frank Hillebrandt. Dort begleitet der Postdoc-Stipendiat unter anderem
ein Forschungsprojekt zum Thema „Ökonomisierung“. Ein potenzielles
Untersuchungsfeld ist dabei auch der Sport.

Millionenschwere Übertragungsrechte, gewichtige Werbedeals und FIFA-
Skandale machen den starken Einfluss von ökonomischen Interessen auch bei
der Weltmeisterschaft in Russland spürbar. Böing hat sich mit der
Kommerzialisierung im Fußball auseinandergesetzt. Aus seiner Sicht ist die
Rationalisierung ein wichtiger Aspekt: „Das ganze Fußball-Erlebnis wird
immer mehr ‚durchgestylt‘“. Was in der Arena passiert, soll möglichst gut
planbar sein, organisiert und kalkulierbar ablaufen. Fraglich ist aus
Sicht des Soziologen, wie weit diese Praxis gehen kann, ohne die
Atmosphäre im Stadion zu gefährden. „Um das Produkt ‚Fußball‘ aus
ökonomischer Sicht bestmöglich zu vermarkten, braucht es emotionalisierte
Fans, die aber gleichzeitig unter Kontrolle gehalten werden müssen“,
erklärt Böing die Gratwanderung zwischen wirtschaftlich zuträglicher und
schädlicher Restriktion.

Problematisch wird es dann, wenn sich Fußballfans nur noch als „Ware“
verstanden wissen. Denn viele von ihnen identifizieren sich auf einer sehr
persönlichen Ebene mit ihrem Nationalteam oder Club. „Identifikation
bedeutet, sich als Person, als Mensch einzubringen“, erklärt der
Soziologe. „Es ist einfach verletzend, von der Interaktionspartnerin oder
dem Interaktionspartner gespiegelt zu bekommen, dass man nur eine ‚Nummer‘
ist.“ Der Frust über mangelnde Wertschätzung durch Vereine und Verbände
kann sich auf verschiedene Weise bahnbrechen – schlimmstenfalls in Form
gewaltsamer Ausschreitungen während Fußballevents.

Professionalisierung auf dem Rasen
Parallel zur Ökonomisierung des Sportevents wird das eigentliche
Spielgeschehen zusehends professionalisiert. Ein Novum bei der
diesjährigen Weltmeisterschaft ist zum Beispiel der sogenannte
„Videobeweis“ zur nachträglichen Prüfung von Torschüssen. Böing erkennt in
dem Verfahren Vor- und Nachteile: „Am Fußball ist das eigentlich
Spannende, dass man vorher nicht weiß, wie es ausgeht. Auch Schwächere
können gewinnen. Dieses ‚Unerwartete‘ wird durch den Videobeweis –
zumindest in der Theorie – ein Stück weit zurückgeschraubt. Abgesehen von
technischen Unzulänglichkeiten macht er das Spiel aber gerechter.“

Von einem persönlichen Standpunkt aus beargwöhnt der Soziologe den
psychischen Druck und die Zwänge, unter denen die Teams stehen. Oftmals
wird natürliches menschliches Verhalten sanktioniert. Zum Beispiel dürfen
sich Trainerinnen und Trainer im Überschwang ihrer Gefühle nicht frei am
Spielfeldrand bewegen, sondern müssen in den streng bemessenen „Coaching-
Zones“ verharren. „Diese ‚Verregelung‘ ist eigentlich eine Zumutung“,
findet Böing. „Gewisse Emotionen gehören nun einmal zum Fußballspiel
dazu.“