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Organ-on-a-Chip-System.  Fraunhofer IGB
Organ-on-a-Chip-System. Fraunhofer IGB

Mithilfe der neuartigen Organ-on-a-Chip-Technologie ist es
Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Grenzflächen- und
Bioverfahrenstechnik IGB und der Eberhard Karls Universität Tübingen
gelungen, die Komplexität der menschlichen Netzhaut in einem
mikrophysiologischen System nachzubilden. Die Retina-on-a-Chip kann
helfen, Augenerkrankungen zu untersuchen und augenschädigende
Nebenwirkungen von Medikamenten zu testen.

In der heutigen Ausgabe des renommierten Open-Access-Journals eLife wird
die Entwicklung einer Retina-on-a-Chip beschrieben, die lebende
menschliche Zellen in einem künstlichen mikrophysiologischen System
integriert und so eine funktionelle Gewebestruktur erzeugt.

Als innovatives Werkzeug stellt die Retina-on-a-Chip eine
vielversprechende Alternative zu bestehenden Modellen für die Untersuchung
von Augenerkrankungen und für die Testung von Medikamenten dar.

Die Netzhaut ist ein dünnes, hochkomplexes, mehrschichtiges Gewebe, das
auf der Innenseite des Auges das einfallende Licht sammelt und visuelle
Informationen an das Gehirn weitergibt. Schädigungen der Netzhaut sind
häufig integraler Bestandteil von Erkrankungen, die zu Blindheit führen.
Die Netzhaut ist darüber hinaus anfällig für schädigende Nebenwirkungen
von Medikamenten, die zur Behandlung anderer Krankheiten wie etwa Krebs,
verabreicht werden. Derzeit ziehen Wissenschaftler in der Regel
Tiermodelle heran, um Augenkrankheiten und Nebenwirkungen von Medikamenten
zu untersuchen.

In den letzten Jahren wurde große Hoffnung in Forschung an Retina-
Organoiden – winzigen, aus menschlichen Stammzellen gewachsene,
retinaähnliche Strukturen – gesteckt. Allerdings können beide Modelle die
Physiologie der menschlichen Netzhaut nicht oder nur ansatzweise
widerspiegeln, sodass sich die Ergebnisse dieser präklinischen Studien
nicht ohne Weiteres auf den Menschen übertragen lassen. Eine der
Besonderheiten von Retina-Gewebe ist, dass es viele unterschiedliche
Zelltypen beinhaltet, die in einem komplexen Zusammenspiel miteinander
wechselwirken; zudem ist es mit kleinen Blutgefäßen durchzogen. »Es ist
äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die komplexe Gewebestruktur
der menschlichen Netzhaut ausschließlich mit technischen Ansätzen
nachzuempfinden«, erklärt Dr.-Ing. Christopher Probst, Wissenschaftler am
Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in
Stuttgart und Co-Erstautor der aktuellen Veröffentlichung.

Um diese Herausforderungen zu bewältigen, kombinierten die Wissenschaftler
Organ-on-a-Chip- und Organoid-Technologien: Zunächst brachten sie
menschliche pluripotente Stammzellen dazu, sich zu den verschiedenen Arten
von Netzhautzellen zu entwickeln, etwa den Stäbchen und Zapfen als
Photorezeptoren und den Bipolar- und Horizontalzellen als
informationsverarbeitende Zellen. Basierend auf Erkenntnissen der
entwicklungsbiologischen Forschung konnten die Zellen zudem angeregt
werden, sich in einer physiologischen Struktur – in der Form von Retina-
Organoiden – selbst anzuordnen. Unter Einsatz technischer Hilfsmittel
ließen sich dann die noch fehlenden Zelltypen sowie wichtige
blutgefäßähnliche Strukturen ergänzen, über die die Zellen mit Nährstoffen
und Medikamenten versorgt werden.

»Durch Kombination biologischer und technischer Prozesse ist es uns
gelungen, eine komplexe mehrschichtige Struktur zu schaffen, die alle in
Retina-Organoiden vorhandenen Zelltypen und -schichten umfasst und
erstmals auch die physiologische Interaktion der Photorezeptoren mit dem
umliegenden retinalen Pigmentepithel ermöglicht«, sagt Co-Erstautor Dr.
Kevin Achberger, Postdoc am Lehrstuhl für Neuroanatomie und
Entwicklungsbiologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. »Mit unserer
Retina-on-a-Chip können wir erstmals ein dreidimensionales Netzhautmodell
vorweisen, das einen Großteil der strukturellen Merkmale und
Funktionalität der menschlichen Netzhaut nachbildet.«

So behandelte das Team ihr Retina-on-a-Chip-System mit dem
Malariamedikament Chloroquin und dem Antibiotikum Gentamicin, die beide
für die menschliche Netzhaut bekannte Nebenwirkungen aufweisen. Die
Untersuchungen zeigen, dass die Medikamente diese Nebenwirkungen auch bei
den Netzhautzellen im Retina-on-a-Chip-Modell auslösen. Dies unterstreicht
das Potenzial, welches die Retina-on-a-Chip als aussagekräftiges Werkzeug
für die Untersuchung schädigender Nebenwirkungen hat.

»Ein Vorteil dieses winzigen Modells ist, dass es als Teil eines
automatisierten Systems verwendet werden könnte, um Hunderte von
Medikamenten sehr schnell auf schädigende Wirkungen auf die Netzhaut zu
testen«, sagt Achberger. »Außerdem ermöglicht es Wissenschaftlern,
Stammzellen eines bestimmten Patienten zu entnehmen und sowohl die
Krankheit als auch mögliche individuelle Behandlungen zu untersuchen.«

»Dieser neue Ansatz kombiniert zwei vielversprechende Technologien –
Organoide und Organ-on-a-Chip – und hat das Potenzial, die
Medikamentenentwicklung zu revolutionieren und eine neue Ära der
personalisierten Medizin einzuleiten«, sagt Senior-Autor Peter Loskill,
Juniorprofessor für Experimentelle Regenerative Medizin an der Eberhard
Karls Universität Tübingen und Leiter der Attract-Gruppe Organ-on-a-Chip
am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB.
Sein Labor, das beide Forschungsstandorte umfasst, hat bereits ähnliche
Organ-on-a-Chip-Systeme für Herzmuskel, Fettgewebe und Bauchspeicheldrüse
entwickelt.

Publikation auf eLife

Der Artikel »Merging organoid and organ-on-a-chip technology to generate
complex multi-layer tissue models in a human Retina-on-a-Chip platform«
ist online abrufbar unter https://doi.org/10.7554/eLife.46188. Inhalte,
einschließlich Text, Abbildungen und Daten, können unter der CC BY 4.0
Lizenz frei verwendet werden.

Forschung Kompakt 9/2019