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Seit dem 10. März hat sich auf Deutschlands Intensivstationen viel getan.
Die Anzahl der Patienten mit COVID-19 hat sich seit diesem Tag bis heute
mehr als verdoppelt: Von 2.227, dem Startpunkt der 3. Welle, auf heute
4.496. Politisch ist nichts passiert. „Dabei haben wir nur zwei wirksame
Mittel gegen die Pandemie: Abstand und Impfen“, sagt der Präsident der
Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin
(DIVI), Professor Gernot Marx, Direktor der Klinik für Operative
Intensivmedizin und Intermediate Care am Universitätsklinikum Aachen. „Nur
will das anscheinend niemand mehr hören.“

Und so werden es täglich mehr schwerstkranke Patienten mit COVID. So
schwappt die dritte Welle in die Kliniken, wo eigentlich die Pflegekräfte
dringend mal eine Pause bräuchten. So wird täglich wieder Patient um
Patient verlegt, um Platz zu schaffen. Und so werden wieder immer häufiger
planbare Operationen abgesagt. „Den großen Knall, den absoluten Notfall,
den wird es in Deutschland so schnell nicht geben – weil im Hintergrund
sehr viele Menschen so unheimlich hart arbeiten“, erklärt Marx. „Trotzdem
ist die Situation absolut kritisch!“

„Das Bild wird sich in knapp 14 Tagen deutlicher zeichnen“, pflichtet ihm
Professor Christian Karagiannidis, med.-wiss. Leiter des DIVI-
Intensivregisters und Leiter des ECMO-Zentrums der Lungenklinik Köln-
Merheim bei. „Denn dann wird die Zahl der COVID-19-Patienten auf den
Intensivstationen auf die 6.000 zugehen – und das wird nur schwerlich
aufzuhalten sein.“ Damit wären es mehr Patienten als auf der Spitze der
zweiten Welle Ende Dezember/ Anfang Januar. Und zu dieser Zeit hatten die
Intensivmediziner schon zahlreiche Patienten von Ost nach Nord und von
Mitte nach Nord verlegt, um überhaupt noch jeden Menschen behandeln zu
können. „Unsere prognostizierte Zahl der Patienten und die tatsächliche
liegen weiterhin sehr nah beieinander. Durch einen harten Lockdown hätten
wir jeweils abbiegen und damit Leid und Tod verhindern können – aber wir
verpassen durch politisches Zögern jede der möglichen Ausfahrten“, sagt
Karagiannidis, der als Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Internistische Intensivmedizin (DGIIN) auch eine weitere große Gruppe an
Intensivmedizinern vertritt.

Rund um Großstädte und Ballungsräume sind kaum noch Betten verfügbar.

„In Köln und Düsseldorf sind jeweils nur 22 Betten auf den
Intensivstationen frei – das sind unter zehn Prozent, also weniger als ein
Bett pro Klinik“, erklärt Professor Steffen Weber-Carstens, ebenfalls
med.-wiss. Leiter des DIVI-Intensivregisters und Leitender Oberarzt der
Klinik für Anästhesiologie und operativer Intensivmedizin der Charité.
„Das gleiche Bild haben wir in allen Großstädten und Ballungsgebieten in
Deutschland.“ Thüringen habe gerade mit mehr als 30 Prozent den höchsten
Anteil an COVID-Patienten auf den Intensivstationen und gleichzeitig mit
weniger als zehn Prozent freien Intensivbetten im gesamten Bundesland ein
wirkliches Problem.

Berlin als Stadtstaat hat noch die für Notfallpatienten obligatorischen
2,5 Betten pro Klinik frei. „Und die brauchen wir für den Schlaganfall-
und den Herzinfarktpatient, die kommen werden“, sagt Weber-Carstens. „Auf
den Intensivstationen ist eine Auslastung von 80 Prozent die absolute
Obergrenze. Mehr geht nicht.“

Operationen werden verschoben, der Klinikbetrieb eingeschränkt

Weil eben mehr nicht geht, versuchen die Intensivmediziner die Zahl der
Patienten auf den Intensivstationen bestmöglich zu steuern – durch
Verlegung auf andere Stationen oder in andere Kliniken, oder durch die
Absage von planbaren Operationen. Professor Frank Wappler, Präsident der
Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und
Klinikdirektor der Klinik für Anästhesiologie und operative
Intensivmedizin im Krankenhaus Köln-Merheim erklärt: „Es werden bereits
wieder zahlreiche Eingriffe von Patienten auf einen späteren Zeitpunkt
verschoben. Wir wissen, dass im Vergleich zu den Vorjahren z.B. deutlich
weniger Tumor-Operationen durchgeführt worden sind. Einfach, weil die
Patienten im Anschluss ein Bett auf der Intensivstation benötigen.“ Diese
Betten seien aktuell aber eben nicht frei. Darüber hinaus wird in vielen
Krankenhäusern ärztliches und pflegerisches Personal aus dem OP-Bereich
auf die Intensivstationen versetzt, um den erhöhten Anforderungen
entsprechen zu können.

„Nach der dritten Welle wird uns das Pflegepersonal abspringen!“

So folgt auf die Welle der Corona-Patienten jeweils für die Teams auf den
Intensivstationen die Welle der Elektiv-Patienten, die dringend operiert
werden müssen. Und das seit einem Jahr. Die Auslastung ist seither auf den
Stationen immer maximal. „Keine Pause in Sicht“, mahnt Professor Uwe
Janssens, Past-Präsident der DIVI, Generalsekretär der DGIIN und Chefarzt
der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St
.-Antonius-Hospital in Eschweiler. „Diese dritte Welle wird das Zünglein
an der Waage sein. Da werden uns zahlreiche Pflegekräfte endgültig die
Segel streichen – und wir können es ihnen nicht verübeln.“ Schon vor der
Corona-Pandemie gab es einen erheblichen Mangel an Fachpflegepersonal.
„Das Problem konnte bisher trotz aller Bemühungen nicht gelöst werden und
wird sich jetzt und in den kommenden Monaten noch weiter verschärfen“,
befürchtet Janssens.

Somit warte man weiterhin auf die Signale aus der Politik. „Alle
Beteiligten und Verantwortlichen müssen aber gerade jetzt ihre
konstruktiven Ideen gemeinsam diskutieren und im Konsens endlich und zügig
auf den Weg bringen.“

Intensivmediziner blicken immer nach vorne!

Der Status quo lautet also: Mehr Patienten. Weniger Betten. Deshalb wieder
weniger Operationen, um das System ins Gleichgewicht zu bringen. „Ein
harter Lockdown, wie wir ihn seit Ende Februar fordern, für einen Zeitraum
von etwa drei Wochen, kann die hohen Inzidenzen deutlich sinken lassen und
damit auch die Zahl der Intensivpatienten deutlich verringern“, fasst es
DIVI-Präsident Marx zusammen. „Wir wiederholen uns leider in diesem Punkt
seit vielen Wochen.“ Es muss endlich etwas passieren. Die Zeit drängt!