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Erlanger Virologe über SARS-CoV-2-Mutanten: „Je ungehinderter das Virus
sich verbreiten kann, desto besser überwindet es die menschliche
Immunabwehr“

Gab es im April 2020 weltweit nur etwa zehn dominante Mutationen des
Coronavirus SARS-CoV-2, ist ihre Zahl bis zum Frühjahr 2021 rasant
angestiegen. Heute sind etwa 100 Mutationen bekannt. Eine umfassende
Analyse dazu liefert nun ein Forschungsteam um Dr. Stefanie Weber und
Gastprofessor Prof. Dr. Walter Doerfler vom Virologischen Institut –
Klinische und Molekulare Virologie (Direktor: Prof. Dr. Klaus Überla) des
Universitätsklinikums Erlangen der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg. Die Wissenschaftler verfolgten das Auftreten von
Virusmutationen und -varianten ab Beginn der Pandemie in definierten
Zeitintervallen in zehn Ländern: Großbritannien, Südafrika, Indien, USA,
Brasilien, Russland, Frankreich, Spanien, Deutschland und China. Dabei
arbeiteten die Erlanger Experten mit Forschern in den USA zusammen: von
der University of California in Davis/Sacramento und der UCLA Fielding
School of Public Health in Los Angeles. Ihre Studie wurde jetzt in der
wissenschaftlichen Fachzeitschrift EMBO Molecular Medicine veröffentlicht.

Während der ungehemmten weltweiten Ausbreitung und rapiden Vermehrung von
SARS-CoV-2 sind zahlreiche Mutanten und Varianten entstanden. „Dieser
Vorgang dauert an und könnte sich trotz Impfung weiterentwickeln, falls es
nicht schnell genug gelingt, die Ausbreitung einzudämmen“, sagt Prof.
Walter Doerfler. „Es ist aber noch unbekannt, ob die Infektion mit
bestimmten SARS-CoV-2-Mutanten mit der Art und der Schwere einer
COVID-19-Erkrankung in spezifischer Weise zusammenhängt.“

Bis März 2021 ist die Zahl der Corona-Mutationen rasant angestiegen.
Bereits bis Ende Januar 2021 wurden neben den bisher bekannten
Virusvarianten (Variants of Concern) aus Großbritannien, Südafrika,
Brasilien und Kalifornien/USA weltweit zwischen 70 und 100 neue Mutationen
im SARS-CoV-2-Genom nachgewiesen. Mittlerweile kam eine neue Variant of
Concern hinzu: „Ende April 2021 verfolgten wir mit Bestürzung die
Explosion der SARS-CoV-2-Infektionen in Indien mit mehr als 353.000 Fällen
und 2.812 Toten pro Tag – die höchsten weltweit je ermittelten
Fallzahlen“, sagt Dr. Stefanie Weber. „Die bisher bekannten Virusvarianten
könnten ansteckender und auch potenziell krankmachender sein als das
ursprüngliche Virus aus Wuhan.“

Für ihre aktuelle Forschungsarbeit analysierten die Autoren weltweit über
380.500 SARS-CoV-2-RNA-Sequenzen von der Wissenschaftsplattform GISAID,
die freien Zugang zu Genomen liefert, auf Mutanten und Varianten.
Zusätzlich untersuchten die Wissenschaftler über 1.750 dieser RNA-
Sequenzen detailliert auf Änderungen von Virusproteinen. Dabei
betrachteten sie die Entwicklung in vier Zeitintervallen: Januar 2020 bis
April/Mai 2020, April/Mai 2020 bis Juli/August 2020, Juli/August 2020 bis
Dezember 2020 und Dezember 2020 bis März/April 2021. „Aus der
Detailanalyse der Mutationen ergab sich ein interessanter Hinweis“,
erklärt Stefanie Weber. „Mehr als 50 Prozent der weltweit registrierten
Mutanten kamen durch einen Austausch der Basen Cytosin und Uracil im RNA-
Genom von SARS-CoV-2 zustande. Dabei hat das Virus es offenbar geschafft,
eine vermeintliche Schutzfunktion menschlicher Zellen – möglicherweise das
sogenannte APOBEC-System – für seine Zwecke auszunutzen.“

Mutanten unterstützen die SARS-CoV-2-Vermehrung

Dass sich Mutanten rasant verbreiten, unterstützt die SARS-
CoV-2-Vermehrung. „Es ist zu befürchten, dass die hohe Effizienz der
Mutagenese langfristig erhebliche Probleme für die Therapie und die
Impfprogramme gegen das Virus generieren könnte“, schätzt Prof. Doerfler
die Lage ein. „Wahrscheinlich wird SARS-CoV-2 für längere Zeit ein
gefährlicher Begleiter für uns bleiben.“ Doch auch ein zweites Szenario
wäre unter Umständen denkbar: Im Laufe einer extremen Mutationsbildung
kann sich das System erschöpfen und das Virus die Fähigkeit zur Vermehrung
verlieren. Für SARS-CoV-2 gibt es dafür allerdings derzeit keine Hinweise.

Da SARS-CoV-2-RNA-Proben außer in Großbritannien nur in wenigen Ländern
systematisch sequenziert, das heißt genetisch analysiert werden, kann die
Rolle der vielen bereits identifizierten Mutanten im Infektionsgeschehen
nicht adäquat beurteilt werden. „Sequenzierungstechnologien und schnelle
PCR-Tests sollten sich also baldmöglichst in Deutschland etablieren, denn
es ist für die COVID-19-Diagnose und -Therapie sowie für die
Impfstoff(weiter)entwicklung essenziell, Virusmutanten und -varianten zu
verstehen. Je länger wir die Impfung verzögern, umso schneller können sich
neue Mutanten durchsetzen und den Impferfolg langfristig infrage stellen“,
betont Walter Doerfler. In diesem Zusammenhang merkt er kritisch an:
„Solange wir uns auf Antigen-Schnelltests verlassen, die in mindestens 35
Prozent der Fälle falsch negative Ergebnisse liefern, werden wir die
COVID-19-Pandemie nicht beherrschen.“

Auch nach der jetzt in EMBO Molecular Medicine veröffentlichten Studie
sind noch viele Fragen offen: Wie wirkt sich die Infektion mit einer neuen
Mutante auf den Krankheitsverlauf aus? Welche Mutanten und Varianten
setzen sich tatsächlich durch und weshalb? Wie lange wird SARS-CoV-2 seine
„Strategie“ noch durchhalten? Wie erfolgreich sind die Impfstrategien?
„Wir möchten keine Panik machen, aber das Problem klar benennen und
aufzeigen, was da gerade passiert“, sagt Prof. Doerfler.

Link zur Original-Publikation:
https://www.embopress.org/doi/abs/10.15252/emmm.202114062