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Die Nachwuchswissenschaftler Susanne-Marie Kirsch (l.) und Felix Welsch mit dem Prototyp des smarten Implantats, der auf der Hannover Messe gezeigt wird.  Foto: Oliver Dietze  Universität des Saarlandes
Die Nachwuchswissenschaftler Susanne-Marie Kirsch (l.) und Felix Welsch mit dem Prototyp des smarten Implantats, der auf der Hannover Messe gezeigt wird. Foto: Oliver Dietze Universität des Saarlandes

Implantate, die bei Brüchen die Knochenteile fixieren, sollen selbst die
Heilung permanent überwachen und gezielt fördern – etwa mit Mikro-Massagen
an der Bruchstelle. Ingenieurwissenschaftler, Mediziner und Informatiker
der Universität des Saarlandes arbeiten hierzu im Projekt „Smarte
Implantate“ zusammen. Das Ingenieurteam der Professoren Stefan Seelecke
und Paul Motzki stattet das Implantat mit intelligenten „künstlichen
Muskeln“ aus: Formgedächtnisdrähte bringen den Heilungsprozess via
Smartphone unter Kontrolle. Auf der Hannover Messe vom 22. bis 26. April
zeigen die Forscherinnen und Forscher ihren Prototyp (Halle 2 Stand B10).

Knochen sind stabil und elastisch zugleich, sie wachsen, sind ständig im
Umbau und halten einiges aus. Brechen sie, können sie heilen, sofern die
Bruchstücke richtig aneinander liegen. Aber manchmal klappt das nicht wie
geplant und der Knochen wächst trotz Operation nicht richtig zusammen. Vor
allem bei Unterschenkelfrakturen kommt dies öfter vor – bei etwa vierzehn
von hundert Patienten. Weil Ärztinnen und Ärzte nach der Operation nicht
ins Bein blicken und dem Knochen beim Heilen zuschauen können, bleibt
lange unbemerkt, was sich dort anbahnt. Erst nach Wochen zeigt ein
Röntgenbild, ob neues Knochengewebe an der richtigen Stelle macht, was es
soll. Tut es das nicht, folgen Schmerzen, Arbeitsunfähigkeit und hohe
Kosten.

Für einen permanenten Einblick ins Bein soll jetzt ein neues Implantat
sorgen: Es soll den Heilungsverlauf ununterbrochen beobachten,
kontrollieren und sogar gezielt aktiv fördern. Hieran arbeitet an der
Universität des Saarlandes ein großes Forschungsteam an der Schnittstelle
von Medizin, Ingenieurwissenschaft und Informatik zusammen. „Wir
entwickeln gemeinsam ein smartes Implantat, das ohne zusätzliche Eingriffe
oder Apparaturen auskommt. Hierzu verleihen wir dem Implantat, das ohnehin
gebraucht wird, um die Knochenstücke zusammenzuhalten, völlig neue
Fähigkeiten“, erklärt Professor Stefan Seelecke, der mit seinem Team an
der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik
und Automatisierungstechnik (ZeMA) forscht.

Das smarte Implantat wird es in sich haben: Sofort, sobald die OP-Wunde
vernäht ist, soll die Implantat-Platte selbst unablässig informieren, wie
der Bruch heilt. Belasten Patientin oder Patient den Bruch ungünstig, soll
sie warnen. Am Frakturspalt, wo die Knochenbruchteile aneinander liegen,
soll das Implantat nach Bedarf steif oder weich werden und – das ist der
besondere Clou – es soll durch kleine Bewegungen dort eine Mikro-Massage
vollführen: Dies fördert die Knochenheilung aktiv durch Wachstumsanreize.
All dies soll automatisch ablaufen und von außen via Smartphone steuerbar
sein. In das Implantat fließt das Knowhow verschiedenster Fachdisziplinen.

Eine zentrale Rolle spielen haarfeine Drähte aus Nickel-Titan, auch
Formgedächtnisdrähte genannt. Sie sind im Projekt der Part des Teams der
Experten für smarte Materialsysteme Stefan Seelecke und Paul Motzki: Die
Saarbrücker Ingenieurinnen und Ingenieure verleihen dem Implantat damit
seine „intelligenten Muskeln“: „Wir nutzen Formgedächtnisdrähte zum einen
als Antriebe: Sie sorgen im Implantat dafür, dass dieses steif oder weich
werden, sich bewegen und Kraft ausüben kann. Zum anderen nutzen wir die
Drähte als Sensor, um die Abläufe am Frakturspalt im Auge zu behalten“,
erklärt Paul Motzki, der mit „Smarte Materialsysteme für innovative
Produktion“ eine Brückenprofessur zwischen Universität des Saarlandes und
ZeMA innehat.

Die Nickel-Titan-Drähte können sich ähnlich wie Muskeln verkürzen und
wieder lang werden, je nachdem ob Strom durch sie fließt. Der Grund liegt
im Kristallgefüge der Legierung: „Nickel-Titan hat ein Formgedächtnis. Die
Legierung besitzt auf Kristallgitterebene zwei Phasen, die sich ineinander
umwandeln können“, erklärt Paul Motzki. „Fließt Strom, erwärmt sich der
Draht, seine Kristallstruktur wandelt sich um und verkürzt sich. Wird der
Strom abgeschaltet, kühlt er ab, wechselt die Phase und wird lang wie
zuvor.“ Indem die Ingenieure die Drähte abwechselnd anspannen und
entspannen und sie als Spieler und Gegenspieler einer Beuge- und
Streckmuskulatur zusammenarbeiten lassen, entsteht Bewegung: Bündel der
feinen Drähte werden zu Muskelfasern der Technik. „Mehrere Drähte geben
durch die größere Oberfläche mehr Wärme ab, dadurch können wir sie schnell
kontrahieren lassen“, erläutert Stefan Seelecke. Die künstlichen
Muskelstränge sind dabei auf kleinstem Raum sehr kräftig. „Sie haben hohe
Zugkraft und die höchste Energiedichte von allen bekannten
Antriebsmechanismen“, sagt er.

Die Muskeln selbst dienen dabei als Sensoren. „Verformen sich die Drähte,
ändert sich der elektrische Widerstand. Wir können jeder noch so kleinen
Verformung des Drahts einen präzisen Messwert zuordnen. Das macht es
möglich, an den Zahlen alle sensorischen Daten abzulesen“, sagt
Doktorandin Susanne-Marie Kirsch, die hieran forscht. Anhand der Messwerte
lassen sich also einerseits winzigste Veränderungen am Frakturspalt
ablesen. In Zusammenarbeit mit dem Unfallchirurgen der Universität des
Saarlandes Professor Tim Pohlemann und der Professorin für Innovative
Implantatentwicklung Bergita Ganse, die das Gesamtprojekt leiten, werden
daraus Rückschlüsse auf den Heilungsverlauf möglich: ob also die
Steifigkeit im Knochenbruch zunimmt. Diese Informationen werden künftig –
in dem Falle drahtlos – ans Smartphone übermittelt. Und: Andererseits
werden durch die Zusammenarbeit über Fächergrenzen hinweg Rückschlüsse
auch darauf möglich, was die Heilung fördert: die gezielte Stimulation des
Frakturspalts. Mit den Messwerten lassen sich die Drähte nach einer
Choreografie bewegen. Die Ingenieure können präzise Bewegungsabläufe der
Drähte modellieren und programmieren, oder sie einfach in jeder beliebigen
Stellung innehalten lassen.

In ihrem Prototyp, den sie auf der Hannover Messe vorstellen, zeigen die
Ingenieure, wie sie ihre künstlichen Muskeln im Implantat zum Einsatz
bringen: Diese liegen über den Frakturspalt hinweg. Über elektrische
Impulse werden die Drahtmuskelstränge nach Bedarf länger, kürzer oder
bleiben stehen und sorgen dafür, dass die Platte am Frakturspalt weicher
oder steifer wird. Die Forscher können die künstlichen Muskeln am
Frakturspalt ansteuern, so dass sie langsame oder schnelle Hubbewegungen
vollführen. Bei einem Hubweg von 100 bis 500 Mikrometer wird der beste
heilungsfördernde Erfolg erwartet. Dank ihrer automatisch integrierten
Sensoreigenschaften dienen die Drähte dabei auch als Nerven des
Implantats: Bewegen sie sich am Frakturspalt, merken die Forscher, ob der
Knochen hier fester wird, also heilt, weil die Drähte dann schlicht mehr
ziehen müssen. Die Steuerung läuft über einen Halbleiterchip. „Die
Regelungseinheit ordnet den Messwerten des elektrischen Widerstands die
jeweilige Deformation der Drähte zu, so dass die Bruchstelle gezielt durch
Bewegung stimuliert und sozusagen massiert werden kann“, erklärt Doktorand
Felix Welsch, der an den smarten Implantaten mitarbeitet. Zusätzliche
Eingriffe von außen sind bei all dem nicht nötig – auch nicht zum
Aufladen: „Das Implantat wird einen leistungsstarken Akku haben und im
Körper durch drahtlose Induktion aufladen können“, sagt Paul Motzki.

Hintergrund
Das Forschungsteam von Stefan Seelecke und Paul Motzki nutzt die
Formgedächtnis-Technologie für die verschiedensten Anwendungen vom
neuartigen Kühl- und Heizsystem über Robotergreifer bis hin zu Ventilen
und Pumpen. Auf der Hannover Messe zeigen die Saarbrücker Expertinnen und
Experten für intelligente Materialsysteme auch smarte Kleinantriebe,
energieeffiziente Greifsysteme und weiche Roboterarme in Form von
Elefantenrüsseln sowie ein neues Kühl- und Heizverfahren. An der
Technologie forschen viele Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen ihrer
Doktorarbeiten mit. Sie ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen in
Fachzeitschriften und wird in mehreren großen Forschungsprojekten
gefördert.
Die Ergebnisse der anwendungsorientierten Forschung bringen die Forscher
in die Industriepraxis. Aus dem Lehrstuhl haben sie die Firma mateligent
GmbH gegründet.

Die Werner Siemens-Stiftung fördert das Projekt „Smarte Implantate“ mit
acht Millionen Euro. Die Gesamtprojektleitung liegt in der Unfallchirurgie
am Universitätsklinikum des Saarlandes bei Professor Tim Pohlemann und am
Lehrstuhl für Innovative Implantatentwicklung (Frakturheilung) bei
Professorin Bergita Ganse (sie hat die gleichnamige Werner Siemens-
Stiftungsprofessur inne). An der Universität des Saarlandes werden hierbei
unter anderem Themen erforscht wie Ganganalyse und Frakturüberwachung für
intelligente Implantate, Stimulation der Frakturstelle, Implantatplanung
und -konfiguration in Computersimulationen sowie Künstliche Intelligenz
für Implantate mit Sensor- und Handlungsfähigkeiten. Hierbei arbeiten
zusammen: das Forschungsteam der Unfallchirurgie am Universitätsklinikum
des Saarlandes von Professor Tim Pohlemann und der Lehrstuhl von
Professorin Bergita Ganse, das Team für intelligente Materialsysteme der
Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki, die Arbeitsgruppe von
Ingenieur Professor Stefan Diebels auf dem Gebiet der Technischen Mechanik
und die des Informatikers Professor Philipp Slusallek (Universität und
Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz DFKI).