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Eine kleine Flasche hat Platz im ersten Mini-Kühlschrank mit künstlichen Muskeln. Student Nicolas Scherer (l.) und Doktorand Lukas Ehl (r.) forschen im Team der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki am neuen Kühlsystem.  Foto: Oliver Dietze  Universität des Saarlandes
Eine kleine Flasche hat Platz im ersten Mini-Kühlschrank mit künstlichen Muskeln. Student Nicolas Scherer (l.) und Doktorand Lukas Ehl (r.) forschen im Team der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki am neuen Kühlsystem. Foto: Oliver Dietze Universität des Saarlandes

Gerade mal eine kleine Flasche hat Platz im ersten Kühlschrank der Welt,
der mit künstlichen Muskeln aus Nickel-Titan kühlt. Aber der Mini-
Prototyp, den das Team der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki vom
22. bis 26. April auf der Hannover Messe vorstellt, hat es in sich: Er
zeigt, dass die Elastokalorik praxistauglich wird. Diese klimaschonende
Kühl- und Heiztechnologie ist weit energieeffizienter und nachhaltiger als
die heutigen Verfahren. Das Forschungsteam entwickelt die neue
Klimatechnik in mehreren Forschungsprojekten an der Universität des
Saarlandes und am Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik
(ZeMA). Hannover Messe, Halle 2 Stand B10

Die neue Technologie, die jetzt in einem kleinen, kompakten Kühlschrank-
Prototypen steckt, beruht auf einem verblüffend schlichten Prinzip: Wärme
wird aus einem Raum abtransportiert, indem Drähte gezogen und wieder
entlastet werden. Die sogenannten Formgedächtnisdrähte aus der
superelastischen Legierung Nickel-Titan, auch künstliche Muskeln genannt,
nehmen dabei in der Kühlkammer Wärme auf und geben diese außen wieder ab.
„Mit unserem Verfahren, der Elastokalorik, erreichen wir beim Kühlen
Temperaturdifferenzen von rund 20 Grad Celsius ohne klimaschädliche
Kältemittel und weit energieeffizienter als mit den heute üblichen
Techniken“, erklärt Professor Stefan Seelecke, der an der Universität des
Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und
Automatisierungstechnik (ZeMA) forscht.

Der Wirkungsgrad elastokalorischer Materialien beläuft sich auf mehr als
das Zehnfache im Vergleich zu heutigen Klimaanlagen oder Kühlschränken.
Das Energieministerium der USA wie auch die Kommission der Europäischen
Union deklarierten die Saarbrücker Klimatechnologie bereits als
zukunftsträchtigste Alternative zu den bisherigen Verfahren. Sie kann weit
größeren Räumen Wärme entziehen als der kleinen Kühlkammer, mit der die
Ingenieurinnen und Ingenieure jetzt die Elastokalorik auf der Hannover
Messe demonstrieren. Und sie kann auch weit größeren Räumen Wärme
zuführen: Der Wärmetransport durch die superelastischen Drähte
funktioniert auch als Wärmepumpe. „Auch beim Heizen erreichen wir
Temperaturdifferenzen von rund 20 Grad Celsius“, sagt Stefan Seelecke. Vor
dem Hintergrund von Klimawandel und Energieknappheit bei zugleich
steigendem Bedarf an Kühlung und Heizen ist das Verfahren also
vielversprechend.

Um Wärme zu transportieren, nutzen die Forscher die besondere „Superkraft“
der künstlichen Muskeln aus Nickel-Titan: das Formgedächtnis. Drähte
dieser Legierung erinnern sich an ihre ursprüngliche Form und nehmen diese
wieder an, nachdem sie verformt oder gezogen werden. Ähnlich wie Muskeln
werden sie lang und wieder kurz, können entspannen und anspannen. Der
Grund hierfür liegt tief im Inneren der Legierung Nickel-Titan: Diese hat
zwei Kristallgitter, zwei Phasen, die sich ineinander umwandeln können.
Anders als bei Wasser sind die Phasen nicht fest, flüssig und gasförmig,
sondern beide fest. Bei diesen Phasenumwandlungen der Kristallstruktur
nehmen die Drähte Wärme auf und geben sie wieder ab: „Das
Formgedächtnismaterial gibt Wärme ab, wenn es im superelastischen Zustand
gezogen wird, und nimmt Wärme auf, wenn es entlastet wird“, erläutert
Professor Paul Motzki, der eine Brückenprofessur zwischen der Universität
des Saarlandes und ZeMA innehat, wo er den Forschungsbereich „Smarte
Materialsysteme“ leitet. Der Effekt wird verstärkt, wenn mehrere Drähte
gebündelt werden: Sie nehmen durch die größere Oberfläche mehr Wärme auf
und geben mehr Wärme wieder ab.

So simpel das Prinzip auf den ersten Blick scheint, so komplex sind die
Forschungsfragen, die zu klären sind, will man damit einen Kühlkreislauf
konstruieren. Im Mini-Kühlschrank, den das Forschungsteam jetzt in
Hannover vorstellt, sorgt ein speziell konstruierter, patentierter
Nockenantrieb dafür, dass Bündel aus 200 Mikrometer dünnen Nickel-Titan-
Drähten fortwährend um eine runde Kühlkammer rotieren: „Während sie im
Kreis wandern, werden sie auf der einen Seite belastet, also gezogen, und
auf der anderen Seite entlastet“, erklärt Doktorand Lukas Ehl, der am
Kühlsystem arbeitet. Luft wird an den rotierenden Bündeln vorbei in die
Kühlkammer geleitet, wo die Drähte entlastet werden und so der Luft Wärme
entziehen. In der Kühlkammer zirkuliert die Luft dann dauerhaft um
entlastete Drähte. Beim Weiterdrehen transportieren die Drähte Wärme aus
der Kühlkammer heraus und geben sie ab, indem sie außen wieder gezogen,
also belastet werden. „Etwa zehn bis zwölf Grad Celsius können auf diese
Weise in der Kühlkammer erreicht werden“, sagt Student Nicolas Scherer,
der im Rahmen seiner Masterarbeit am Projekt forscht.

Die Saarbrücker Ingenieurinnen und Ingenieure forschen daran, wie der
Antrieb die Drähte permanent in Gang hält, wie die Luftströme aussehen,
wie die Abläufe am effizientesten sind, wie viele Drähte sie bündeln
müssen, wie stark diese idealerweise für eine bestimmte Kühlleistung
gezogen werden und vieles mehr. Sie haben auch eine Software entwickelt,
mit der sie die Heiz- und Kühltechnik für verschiedene Anwendungen
anpassen und Kühlsysteme simulieren und planen können. Und sie erforschen
den kompletten Kreislauf von Materialherstellung und Recycling bis zur
Produktion.

Allein bei Kühlschränken soll es nicht bleiben. „Wir wollen das
Innovationspotenzial der Elastokalorik in verschiedenste Anwendungsgebiete
einbringen, etwa in die Industriekühlung, auch in die E-Mobilität zur
Kühlung in Elektrofahrzeugen oder den Haushaltsgerätesektor“, erläutert
Paul Motzki.

Die neue Technologie ist das Ergebnis aus mehr als einem Jahrzehnt
Forschung in mehreren in Millionenhöhe geförderten Forschungsprojekten und
in mehrfach ausgezeichneten Doktorarbeiten. Unter anderem die EU und die
Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG fördern beziehungsweise förderten die
Forschung. Das Bundesforschungsministerium investiert mehr als 17
Millionen Euro im Projekt DEPART!Saar, bei dem die Forscherinnen und
Forscher mit Wissenschaftseinrichtungen und Industriepartnern
zusammenarbeiten. Ziel ist, neue Technologietransfer-Formate
hervorzubringen und den Weg in den Markt zu beschleunigen. In mehreren
Forschungsprojekten und Doktorarbeiten haben die Ingenieurinnen und
Ingenieure auch einen Kühl- und Heizdemonstrator entwickelt, der
kontinuierlich laufen kann und zeigt, wie Elastokalorik Luft kühlen und
erwärmen kann.

Auf der Hannover Messe demonstrieren die Saarbrücker Expertinnen und
Experten für intelligente Materialsysteme die Vielseitigkeit ihrer
Formgedächtnis-Technologie auch in Form von smarten Kleinantrieben,
energieeffizienten Robotergreifern und weichen Roboterarmen in Form von
Elefantenrüsseln.

Hintergrund
Das Forschungsteam von Stefan Seelecke und Paul Motzki nutzt die
Formgedächtnis-Technologie für die verschiedensten Anwendungen vom
Robotergreifer bis hin zu Ventilen und Pumpen. An der Technologie forschen
viele Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen ihrer Doktorarbeiten und
sogar auch bereits Studierende mit. Sie ist Gegenstand zahlreicher
Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und wird in mehreren großen
Forschungsprojekten gefördert. Um diese und andere intelligenten
Materialsysteme in die Industriepraxis zu bringen, haben die
Wissenschaftler aus dem Lehrstuhl heraus die Firma mateligent GmbH
gegründet.