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Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 folgte eine
Welle der Hilfsbereitschaft in Deutschland. Welche Motive und
Einstellungen einer freiwilligen Tätigkeit in der Flüchtlingshilfe
zugrunde liegen, hat der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrats
für Integration und Migration (SVR) im Rahmen einer Engagementbefragung
untersucht. Auf dieser Grundlage diskutiert die Studie
Handlungsempfehlungen für künftige Mobilisierungsstrategien, die sich an
Politik und Verwaltung in den Kommunen sowie an Arbeitgebende, Verbände
und zivilgesellschaftliche Organisationen vor Ort richten.

Viele Menschen in Deutschland haben sich in den letzten zehn Jahren für
Schutzsuchende engagiert, Geld oder Sachleistungen gespendet oder
Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft oder bei Behördengängen
angeboten. „Dass Schutzsuchende, die im Rahmen akuter Fluchtbewegungen
nach Deutschland gekommen sind, hier versorgt werden konnten, ist auch
freiwilligen Helferinnen und Helfern zu verdanken. Rund 13 Prozent aller
Menschen, die sich freiwillig engagieren, waren unseren Daten zufolge in
der Flüchtlingshilfe tätig“, berichtet Dr. Nora Storz, Co-Autorin der
Studie des wissenschaftlichen Stabs des SVR. „Damit rangiert dieser
Bereich – nach den Bereichen Sport, Kultur und Freizeit sowie Gesundheit
und Soziales – zwar nur im unteren Mittelfeld. Die Befragung hat aber auch
ergeben, dass es noch viel ungenutztes Potenzial gibt: Von allen
Engagierten, die bislang nicht in der Flüchtlingshilfe tätig sind, können
sich etwa drei von zehn ein solches Engagement vorstellen. Und auch bei
den bisher noch gar nicht freiwillig Tätigen gibt es einen Anteil
Engagementbereiter. Von allen Befragten insgesamt könnte sich damit etwa
jede vierte Person ein solches Engagement vorstellen.“ Der Studie liegt
eine Mehrfacherhebung zugrunde, die ab Februar 2023 über einen Zeitraum
von sieben Monaten in drei Wellen durchgeführt wurde. Mehr als 2.500
Personen nahmen an allen drei Befragungen teil.

Um herauszufinden, wie aus einer grundsätzlichen Bereitschaft
tatsächliches Engagement werden kann, wurden in der Studie auch
verschiedene politikrelevante Einstellungen der Befragten untersucht.
Dabei zeigte sich, dass Befragte mit größerer politischer
Selbstwirksamkeit sich auch mehr in der Flüchtlingshilfe engagierten oder
zu einem solchen Engagement bereit waren. „Befragte, die sich für Politik
interessieren, engagieren sich häufiger in der Flüchtlingshilfe oder sind
eher zu einem solchen Engagement bereit als Befragte, die weniger
Interesse an Politik haben. Auch bewerten Personen, die sich in der
Flüchtlingshilfe engagieren oder zu einem Engagement bereit sind, die
Responsivität von Entscheidungstragenden besser als Nichtengagierte. Sie
meinen also eher, dass sich Politikerinnen und Politiker um die Anliegen
der Bevölkerung kümmern und deren Interessen aufgreifen“, so Dr. Storz.

Die Motive für Freiwilligenarbeit sind dabei vielfältig und können je nach
Ressourcen und Interessen der Ehrenamtlichen variieren. Auffällig ist
aber, dass Engagierte und Engagementbereite in der Flüchtlingshilfe
deutlich altruistischer eingestellt sind als Befragte, die ein solches
Engagement nicht ausüben wollen. „Viele Freiwillige in anderen Bereichen
suchen vor allem einen Ausgleich zu Alltag und Beruf – oder sie engagieren
sich aus sozialen Motiven, etwa weil ihre Freunde auch ehrenamtlich tätig
sind“, erläutert Alex Wittlif, Co-Autor der SVR-Studie. „Engagierte in der
Flüchtlingshilfe ziehen ihre Motivation vor allem aus der Sorge um andere
Menschen. Viele haben einen hohen politischen Gestaltungsanspruch.
Gleichzeitig spielen aber auch bei ihnen eigennützige oder selbstbezogene
Motive eine Rolle: Das Erlernen neuer Fähigkeiten durch Engagement in der
Flüchtlingshilfe ist zum Beispiel ein solches Motiv.“

Ursachen, die ein Engagement verhindern, gibt es viele. „Zeitmangel ist
einer der häufigsten Gründe, den Personen dafür angeben, warum sie sich
nicht engagieren; zudem geben immerhin 20 Prozent der Engagementbereiten
an, dass sie nicht wissen, wie sie sich engagieren können“, berichtet Alex
Wittlif. Viele Befragte sehen sich den Umfrageergebnissen zufolge aber
auch nicht in der Verantwortung: Jede fünfte Person unter den Befragten,
die sich nicht in der Flüchtlingshilfe engagieren wollen, sagt, es sei
Aufgabe des Staates, sich um Flüchtlinge zu kümmern. Bei den
Engagementbereiten sind dies 13 Prozent.

Um die vorhandenen Potenziale besser zu nutzen, empfiehlt der
wissenschaftliche Stab des SVR, auf die besonders relevanten Motive der
Engagierten und Engagementbereiten einzugehen. „Freiwilligenarbeit kann
sich positiv auf das Selbstwertgefühl auswirken und ermöglicht, eigene
Talente zu entfalten. Das sind wichtige Motive für ein Engagement und
diese Motive sollten die Beteiligten auf kommunaler Ebene auch ansprechen,
wenn sie das Hilfepotenzial besser ausschöpfen wollen“, resümiert Dr. Jan
Schneider, Leiter des Bereichs Forschung beim SVR. In der Praxis müssten
Engagement- und Demokratieförderung außerdem stärker als bisher verzahnt
werden; auch gelte es, Kooperationsstrukturen und Koordinierungsmaßnahmen
vor Ort zu stärken. „Unsere Daten zeigen, dass sich viele
Engagementbereite nicht ausreichend informiert fühlen. Hier braucht es
also mehr Aufklärung darüber, wie sich Menschen konkret einbringen können
– etwa durch persönliche Ansprache, Informationsveranstaltungen oder die
Bereitstellung einer digitalen Plattform, auf der Hilfsgesuche gesammelt
werden. Auch Menschen, die selbst einen Fluchthintergrund haben, sollten
aktiv angesprochen werden. Zudem können Unternehmen wertvolle
Unterstützung leisten: Es gibt bereits Arbeitgebende, die
gemeinwohlorientierte Projekte fördern – etwa indem sie ihren
Mitarbeitenden erlauben, ein gewisses Kontingent an Arbeitszeit für
ehrenamtliche Tätigkeiten zu nutzen“, so Dr. Schneider.

Die Studie des wissenschaftlichen Stabs des SVR entstand im Rahmen des
Projekts „Solidarität in der Aufnahmegesellschaft: Wahrnehmung
Geflüchteter und Determinanten für Engagement und Hilfsbereitschaft“, das
von der Stiftung Mercator gefördert wird. „Erstmals haben Forschende in
Deutschland systematisch die Motive von Menschen in und außerhalb der
Flüchtlingshilfe untersucht, die sich heute schon engagieren, die es nicht
tun und solche, die künftig dazu bereit wären. Die Ergebnisse helfen uns,
zu verstehen, was Engagement letztlich antreibt und wie es sich fördern
lässt. Vor allem Politikerinnen und Politiker, aber auch Mitarbeitende in
Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Organisationen können von den
Befunden profitieren und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt weiter
fördern“, sagt Violaine Dobel, Projektmanagerin der Stiftung Mercator.

Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges
und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen
Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung
bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen
sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und
Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof.
Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva
Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr.
Winfried Kluth, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex, Ph.D.,
Prof. Panu Poutvaara, Ph.D.
Der wissenschaftliche Stab unterstützt den Sachverständigenrat bei der
Erfüllung seiner Aufgaben und betreibt darüber hinaus eigenständige,
anwendungsorientierte Forschung im Bereich Integration und Migration.
Dabei folgt er unterschiedlichen disziplinären und methodischen Ansätzen.
Die Forschungsergebnisse werden u. a. in Form von Studien, Expertisen und
Policy Briefs veröffentlicht.

Weitere Informationen unter: https://www.svr-migration.de