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Deutsches Zentrum für Psychische Gesundheit sieht Verantwortung bei
Arbeitgebern

Berlin, 29.04.2024 – Die Zahlen sind hoch – und sie steigen immer weiter:
15 Prozent aller in Deutschland anfallenden Fehltage gehen auf das Konto
seelischer Erkrankungen. Das bewirkt nicht nur individuelles Leid, sondern
auch einen enormen wirtschaftlichen Schaden. Prof. Dr. Silvia Schneider,
Sprecherin des Standorts Bochum-Marburg des Deutschen Zentrums für
Psychische Gesundheit (DZPG), sieht einen großen Bedarf in der
Betriebsmedizin: „Gerade von Arbeitgebern kann die seelische Gesundheit
noch viel umfassender und gezielter gefördert werden.“ Laut Schneider
haben in den vergangenen Jahren auch die zum Teil einschneidenden
Veränderungen in der Arbeitswelt zu den steigenden Zahlen von psychischen
Erkrankungen beigetragen. Unter anderem treibe der Fachkräftemangel die
Ausfälle wegen seelischer Probleme nach oben; aber auch Homeoffice-
Regelungen können zum Risikofaktor werden. Die Forschung am DZPG ist dem
Problem bereits auf der Spur.

Der Tag der Arbeit ist längst nicht nur ein „Feier“-tag. Denn neben
anderen Faktoren können auch im Berufsleben Auslöser liegen, die krank
machen. Und das sowohl somatisch als auch psychisch. Besonders drängend
ist dieses Problem nicht nur durch das individuelle Leid der Betroffenen,
sondern auch durch die Krankheitsdauer, die mit durchschnittlich 36 Tagen
dreimal so hoch ist wie bei somatischen Erkrankungen mit zwölf Tagen, wie
Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums belegen. „Forschung und Medizin
haben sich lange auf die Faktoren Resilienz und Coping bei den
Beschäftigten konzentriert., aber das greift zu kurz: Die Verantwortung
für menschengerecht gestaltete Arbeit liegt bei den Arbeitgebern. Hier
können Fachärzte für Arbeitsmedizin wertvolle Beiträge leisten, das muss
essenzieller Bestandteil in der Betriebsmedizin sein“, so Schneider.

Faktoren, die seelisch krank machen: Druck, Einsamkeit und
Fachkräftemangel

„Natürlich kann Arbeit auch Ressource sein“, sagt Prof. Dr. Martin Schütte
von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), einer
Partnerinstitution des DZPG. Er ist Wissenschaftlicher Leiter des BAuA-
Fachbereichs „Arbeit und Gesundheit“ und forscht zum Thema Analyse von
Arbeitsbedingungen und deren Effekte auf die mentale Gesundheit. „Arbeit
hat auch einen stabilisierenden Einfluss auf die psychische Gesundheit“,
so Schütte.

Aber ebenso können bei der Arbeit Gefahren für die Seele liegen. Die WHO
fasst diese Belastungsfaktoren knapp zusammen: Arbeitsumgebungen, die von
Diskriminierung und Ungleichheit geprägt sind, gehören ebenso dazu wie
übermäßige Arbeitsbelastung, geringe Kontrolle und Jobunsicherheit. Silvia
Schneider sieht in diesem Zusammenhang auch sehr junge Entwicklungen als
Belastung: „Der technologische Fortschritt bringt nicht nur
Arbeitserleichterung, sondern auch Arbeitsverdichtung und oft komplexere
Aufgaben. Das kann Druck erzeugen. Das Gleiche gilt für die
Flexibilisierung der Arbeit. Homeoffice-Regelungen können Einsamkeit und
Isolation fördern; das ist ein erheblicher Risikofaktor für Depressionen,
wir untersuchen auch das im DZPG.“

Auch Sonja Haase, Erfahrungsexpertin und Mitglied im Trialogischen
Zentrumsrat des DZPG, sagt: „Die Verknüpfung von digitalen Tools und die
daraus resultierenden Folgen wie ständige Erreichbarkeit auf mehreren
Wegen und Kanälen können Stress bewirken.“
Prof. Harald Baumeister vom DZPG-Standort Mannheim-Heidelberg-Ulm
erläutert: „Mit New-Work-Ansätzen ergeben sich Fragen von Zugehörigkeit
und Einsamkeit als Herausforderung. Eines unter vielen Forschungsprojekten
des DZPG zielt daher auch auf das Zusammengehörigkeitsgefühl im
Arbeitskontext als möglicher Schutzfaktor.“

Fachkräftemangel setzt Belegschaften unter Druck

Beim Stichwort Arbeitsverdichtung spiele auch der steigende
Fachkräftemangel eine große Rolle, sagt Silvia Schneider: „In
Berufsgruppen wie zum Beispiel dem Gesundheitssektor oder öffentlichen
Dienst sind die Mitarbeitenden durch die Inhalte ihrer Arbeit ohnehin
schon höherer psychischer Belastung ausgesetzt. In den vergangenen Jahren
ist eine enorme Arbeitsverdichtung hinzugekommen. Denn in Kliniken, an
Schulen und in Behörden fehlen Arbeitskräfte; das steigert die Gefahr
seelischer Erkrankungen wie Erschöpfungszuständen oder Depressionen für
alle.“

Psychische Störungen Krankschreibungsgrund Nummer 2

Der jüngste Report der Techniker Krankenkasse belegt, wie drängend das
Problem ist: Die mit Abstand häufigste Ursache von Krankschreibungen
bildeten demnach auch 2023 wieder Krankheiten des Atmungssystems.
„Depressive Episoden“ belegten aber bereits Rang zwei der Tabelle – noch
vor Rückenschmerzen.

Arbeitgeber können viel für die seelische Gesundheit der Angestellten tun

Dabei gibt es wirksame Maßnahmen, um psychische Gesundheitsrisiken am
Arbeitsplatz zu verhindern, die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz zu
schützen und zu fördern sowie Arbeitnehmer mit psychischen Erkrankungen zu
unterstützen. „Prävention und die Förderung der psychischen Gesundheit als
Teil eines nachhaltigen betrieblichen Gesundheitsmanagements sind von
enormer Bedeutung. Die Gesundheit der Beschäftigten trägt maßgeblich zum
wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen bei. Während das bei somatischen
Krankheiten schon gängiges Wissen ist, müssen Arbeitgeber für die
psychische Gesundheit noch weiter sensibilisiert werden“, so Schneider.
Und Schütte ergänzt: „Neben der Primärprävention, das heißt der
menschengerechten Gestaltung der Arbeitsbedingungen, sind sekundär- und
tertiärpräventive Ansätze wichtig, wie zum Beispiel eine nachhaltige
Rückkehr in den Betrieb zu erreichen. Hier sind niedrigschwellige Angebote
hilfreich, etwa eine psychosomatische oder psychotherapeutische
Sprechstunde, um auftretende Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit
frühzeitig erkennen zu können.“

Die Forschung hat das Thema im Blick

Martin Schütte betont: „In diesem Kontext bietet das Deutsche Zentrum für
Psychische Gesundheit die Möglichkeit, das Thema Arbeit in den
therapeutischen Prozess einzubeziehen. Damit könnten umfassendere
Therapiemöglichkeiten entstehen. Das DZPG kann hier weiterhin
sensibilisieren, welche Arbeitsbedingungen Einfluss auf die psychische
Gesundheit und für den therapeutischen Prozess Relevanz haben.
Psychosoziale Faktoren wie Führung, soziale Unterstützung am Arbeitsplatz,
Arbeitszeit, Entwicklungsmöglichkeiten bei der Arbeit oder die
Arbeitsmenge müssen immer mitgedacht werden. Das DZPG kann somit
evidenzbasierte Informationen zur psychischen Gesundheit für Wissenschaft,
Praxis und Politik liefern."

Woche der Seelischen Gesundheit zielt auf das Arbeitsleben

Die Relevanz des Themas zeigt auch die Woche der Seelischen Gesundheit
2024. Sie findet vom 10. bis 20. Oktober unter der Schirmherrschaft des
Bundesministers für Gesundheit Prof. Dr. Karl Lauterbach statt und trägt
das Motto „Hand in Hand für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz“. Dann
informieren Selbsthilfeverbände, psychosoziale Einrichtungen und
Initiativen des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit an über 100
Standorten mit einem breit aufgestellten Programm über psychische
Belastungen am Arbeitsplatz, präventive Maßnahmen und Strategien zur
Bewältigung. Den Auftakt in Berlin macht eine Veranstaltung im
Kulturzentrum Pfefferberg am 10. Oktober. Trägerin des Aktionsbündnisses
ist die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

Informationen zur Woche der Seelischen Gesundheit 2024:
https://www.seelischegesundheit.net/aktionen/aktionswoche/


Über das DZPG

Seit Mai 2023 arbeiten im Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit
(DZPG) Expertinnen und Experten daran, durch gemeinsame Forschung die
psychische Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern und psychische
Erkrankungen zu entstigmatisieren. An sechs Standorten in Deutschland
wirken hierfür Forscherinnen und Kliniker gemeinsam mit Expertinnen aus
Erfahrung, also Betroffenen und ihnen Nahestehenden, sowie internationalen
Wissenschaftlern zusammen. Unter www.dzpg.org finden Interessierte
Informationen zur Organisation, zu Forschungsprojekten und Zielen sowie
informative Texte und hilfreiche Links rund um das Thema psychische
Gesundheit.

Quellen:
Gesundheitsreport 2024 – Arbeitsunfähigkeiten, Herausgeber: Techniker
Krankenkasse, Unternehmenszentrale Hamburg, 22291
https://www.tk.de/resource/blob/2168508/ee48ec9ef5943d2d40dc10a76bedf290
/gesundheitsreport-au-2024-data.pdf

https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/mental-health-at-work
(Stand 26.4.2024)
BAuA (2017). Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche
Standortbestimmung. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin. Autor*innen: Isabel Rothe, Lars Adolph, Beate Beermann,
Martin Schütte, Armin Windel, Anne Grewer, Uwe Lenhardt, Jörg Michel,
Birgit Thomson, Maren Formazin