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Veränderung EU-Wirtschaftsleistung  IfW Kiel / Trade Task Force
Veränderung EU-Wirtschaftsleistung IfW Kiel / Trade Task Force

Versorgungsengpässe infolge der Corona-Krise haben in der EU die
Diskussion über eine stärkere wirtschaftliche Eigenständigkeit und die
Rückverlagerung der Produktion befeuert. Unter dem Leitmotiv „strategische
Autonomie“, wird auf EU-Ebene angestrebt, bestimmte als wichtig erachtete
Güter auf jeden Fall auch in der EU herzustellen, damit sie unabhängig von
internationalen Krisen verfügbar sind. Ein solches Abkoppeln der EU von
internationalen Lieferketten oder auch nur von China würde die EU-Staaten
jedoch hunderte Milliarden Euro kosten, wie Simulationsrechnungen des IfW
Kiel jetzt zeigen.

Die Autoren der Studie „Decoupling Europe“ (https://www.ifw-
kiel.de/de/publikationen/kiel-policy-briefs/2021/decoupling-europe-0/)
haben simuliert, welche Folgen es hätte, wenn die EU Handelsbarrieren –
abseits von neuen Zöllen – verdoppeln würde, um die heimische Produktion
zu fördern. Das kann zum Beispiel durch eine bevorzugte Vergabe
öffentlicher Aufträge, Steuervorteile oder andere Subventionen für EU-
Anbieter geschehen oder durch Importquoten oder -verbote für ausgewählte
Güter. Das Ergebnis: Würde die EU einseitig solche Schritte ergreifen, um
sich vom Rest der Welt zu entkoppeln, würde das Bruttoinlandsprodukt (BIP)
jedes Jahr verglichen zum Basisjahr 2019 preisbereinigt rund 580 Mrd. Euro
oder 3,5 Prozent geringer ausfallen als ohne die Eingriffe. Würden sich
Europas Handelspartner wehren und im Gegenzug vergleichbare Maßnahmen
einleiten, wüchse der Verlust auf rund 870 Mrd. Euro oder 5,3 Prozent des
BIP.

Ein Abkoppeln der EU ist besonders mit Blick auf den strategischen Rivalen
China in der Diskussion. Würde die EU einseitig entsprechende
Handelsbarrieren gegenüber China verdoppeln, würde das 130 Mrd. Euro (0,8
% des BIP) kosten – bei vergleichbaren Gegenmaßnahmen Chinas wüchsen die
Kosten auf 170 Mrd. Euro (1 % des BIP).

„Würde sich die EU auch nur teilweise von internationalen Liefernetzen
abkoppeln, würde das den Lebensstandard der Menschen sowohl in der EU als
auch bei ihren Handelspartnern deutlich verschlechtern. Neue
Handelsbarrieren sollten deshalb unbedingt vermieden werden“, sagt
Alexander Sandkamp, einer der Autoren der Studie. „Die angeblichen
Vorteile einer größeren Autonomie oder Souveränität sind schwer zu
beziffern und könnten sogar illusorisch sein. Letzteres vor allem, falls
Risiken sich dadurch in einer kleineren Zahl von Märkten ballen. Die
jüngste Flutkatastrophe in Deutschland ist ein trauriger Beweis dafür,
dass sich Krisen auch direkt vor unserer Haustür ereignen können.“

Deutschland wäre stärker als andere EU-Länder betroffen

Deutschland wäre als international wirtschaftlich besonders stark
vernetztes Land härter als viele andere EU-Länder betroffen: Rund ein
Fünftel der Kosten der gesamten EU würde Deutschland tragen, sofern sich
die EU einseitig vom Ausland entkoppelt – das entspricht rund 115 Mrd.
Euro oder 3,3 Prozent des deutschen BIP. Bei einer einseitigen
Entkoppelung von China trüge Deutschland sogar rund ein Viertel der Lasten
(32 Mrd. Euro, 0,9 % BIP). Ein eskalierender Handelskrieg mit China könnte
diese Kosten noch einmal um 50 Prozent steigen lassen.

„Ein Abkoppeln der EU von internationalen Zulieferern würde auch die
Preise für Zwischengüter steigen lassen. Das überträgt sich entlang der
Lieferketten in höhere Preise sowohl für innerhalb der EU konsumierte
Güter als auch für EU-Exporte, die dann wiederum Güter in anderen Ländern
verteuern. Die Ergebnisse zeigen die Bedeutung globaler Lieferketten und
die ungewollten Nebeneffekte, die eine Autonomiepolitik der EU haben
könnte“, sagt Sandkamp. Zum Beispiel würden Nicht-EU-Länder wie die
Schweiz und Norwegen in einigen Szenarien besonders stark betroffen sein,
weil ihr Handel stark mit der EU verflochten ist.

Handlungsbedarf gibt es, Isolation ist aber der falsche Weg

Innerhalb der EU wären die Kosten sehr ungleich verteilt: So wären kleine
Länder wie Irland, Malta oder Belgien sowie die baltischen Staaten relativ
stark betroffen, falls EU-Handelspartner mit Gegenmaßnahmen auf eine
restriktivere EU-Handelspolitik reagieren würden.

Von einer einseitigen Abkoppelung von China würden einige Branchen in der
EU durchaus profitieren – etwa der Groß- und Einzelhandel, der Bausektor
oder der Maschinen- und Anlagenbau. Andere Sektoren – vor allem der
Fahrzeugbau – würden Wertschöpfung verlieren. Bei einem zweiseitigen
Handelskrieg mit China wäre das Ergebnis über alle Branchen negativ.

Trotz der Kritik an neuen Handelshürden sehen die Autoren der Studie
Handlungsbedarf, um die Wirtschaft der EU gegen Krisen im internationalen
Warenverkehr widerstandsfähiger zu machen. Besser als eine Abkoppelung von
internationalen Lieferketten wäre es aber aus ihrer Sicht, zum Beispiel
das Lieferantennetz breiter aufzustellen, Recycling zu fördern und die
Lagerhaltung zu verbessern. „Im Gegensatz zu einer Politik der Isolation
können solche Schritte helfen, die Krisenresilienz der europäischen
Volkswirtschaft zu erhöhen, ohne die Vorteile internationaler
Arbeitsteilung aufs Spiel zu setzen, welche einen so wichtigen Beitrag zum
Wohlstand des Kontinents und seiner Handelspartner leistet“, sagt
Sandkamp.