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Neue Konjunkturprognose

IMK: Durch Energiepreisschocks in die Rezession – Deutsche Wirtschaft
wächst 2022 um 1,6 Prozent und schrumpft 2023 um 1,0 Prozent

Der massive Anstieg der Energiepreise als Folge des russischen
Angriffskriegs gegen die Ukraine und von eingestellten Gaslieferungen
stellt einen in der Nachkriegszeit einmaligen Preisschock für die deutsche
Wirtschaft dar. Der private Konsum wird aufgrund des drastischen
Kaufkraftverlusts deutlich zurückgehen, was das Wachstum belastet. Zwar
wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahresdurchschnitt 2022 noch um 1,6
Prozent steigen, im kommenden Jahr aber um jahresdurchschnittlich 1,0
Prozent schrumpfen. Das ergibt die neue Konjunkturprognose des Instituts
für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-
Stiftung.* Gegenüber der letzten Prognose vom Juni senkt das Institut
damit seine Wachstumserwartung für dieses Jahr um 0,3 Prozentpunkte und
für 2023 um 3,6 Prozentpunkte. Die Lage am Arbeitsmarkt bleibt trotz der
Rezession relativ stabil, die Arbeitslosigkeit steigt lediglich moderat
(Detaildaten unten und in der Tabelle in der pdf-Version dieser PM; Link
unten). Eine Preis-Lohn-Spirale ist laut IMK aktuell nicht zu erwarten,
höhere Tarifabschlüsse als in den Vorjahren und die Anhebung des
Mindestlohns leisteten „einen wichtigen Beitrag dabei, die Realeinkommen
der abhängig Beschäftigten nicht noch stärker zurückgehen zu lassen“,
schreiben die Ökonominnen und Ökonomen. Gleichzeitig bleibe die
Fiskalpolitik weiter gefragt. Die Bundesregierung sollte Privathaushalte
und Unternehmen durch wirkungsvolle Energiepreisdeckelungen entlasten, so
die Forschenden. Dagegen müsse die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrer
Zinspolitik behutsam vorgehen. Schließlich könne die Notenbank gegen die
Preisschübe durch importierte Energie nichts direkt ausrichten. Vielmehr
riskiere sie, die Konjunktur noch weiter zu schwächen.

Der Börsenpreis für Erdgas ist gegenüber 2019 um mehr als 1000 Prozent
gestiegen. Bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ist das größtenteils
noch nicht angekommen, da viele Haushalte längerfristige Verträge mit
ihren Versorgungsunternehmen haben. Der überwiegende Teil der
Preissteigerungen wird im kommenden Winterhalbjahr zu Buche schlagen, so
das IMK. Die Inflation wird dadurch noch stärker zulegen als bisher: Im
vierten Quartal wird der Anstieg der Verbraucherpreise rund 10 Prozent
betragen, im Jahresdurchschnitt 2022 7,8 Prozent. Für das kommende Jahr
rechnet das IMK mit einer etwas nachlassenden Inflation von 5,7 Prozent im
Jahresmittel.

Der private Verbrauch wird infolge der Preissteigerungen deutlich
zurückgehen: Nachdem sie im ersten Halbjahr 2022 noch relativ stark
gestiegen waren, werden die Konsumausgaben im weiteren Jahresverlauf
allenfalls stagnieren und im kommenden Jahr um 2,5 Prozent schrumpfen.
Zugleich werden die Bauinvestitionen 2023 einbrechen, was vor allem an den
gestiegenen Zinsen und Baukosten liegt und durch anhaltende
Materialengpässe verstärkt wird. Besonders deutlich werden die
Investitionen im Wohnungsbau sinken.

Nicht zuletzt aufgrund von Kurzarbeit dürfte die Lage am Arbeitsmarkt
gleichwohl relativ stabil bleiben. Die Arbeitslosenquote steigt laut IMK
von durchschnittlich 5,3 Prozent im Jahr 2022 auf 5,8 Prozent im Jahr
2023, was aber zu einem erheblichen Teil daran liegt, dass die
erwerbsfähigen ukrainischen Geflüchteten in die Arbeitslosenstatistik
einbezogen werden. Die von der Bundesregierung beabsichtigte Verlängerung
des erleichterten Zugangs zum Kurzarbeitsgeld über den September 2022
hinaus sei richtig, könnte aber zu wenig sein, urteilen die Expertinnen
und Experten des IMK. Denkbar sei, dass der Staat die
Sozialversicherungsbeiträge für die ausgefallenen Arbeitsstunden wieder
komplett oder zumindest teilweise übernimmt und das Kurzarbeitsgeld
zeitweise anhebt.

Die Bundesregierung ist mehrfach gefordert: „Zur Verhinderung sozialer
Schieflagen, aber auch zur Stabilisierung des privaten Konsums und damit
der Konjunktur, ist in der aktuellen Situation insbesondere die schnelle
Umsetzung von Preisbremsen bei Erdgas und Strom erforderlich. Allerdings
sollte dabei der subventionierte Grundbedarf so bemessen sein, dass der
Sparanreiz bei allen Haushalten bestehen bleibt“, heißt es in der IMK-
Prognose. Neben dem akuten Energiepreisschock müsse die Bundesregierung
dabei auch die Klimaziele weiter im Blick haben. Dies erfordere massive
private und öffentliche Investitionen – auch in einer Zeit, in der die
finanzielle Lage der öffentlichen Haushalte, der Unternehmen und der
privaten Haushalte durch die Folgen des Ukrainekriegs angespannt ist.

Aus Sicht der Forschenden sind die Pläne, die Schuldenbremse 2023 ohne
erneuten Rückgriff auf die Notlagenklausel einzuhalten, angesichts der
hohen anstehenden Kosten für notwendige Maßnahmen wie die Gaspreisbremse
und die Klimainvestitionen fragwürdig. „Insbesondere besteht das Risiko,
dass durch den engen Finanzierungsrahmen eine Gaspreisbremse zu spät oder
in zu geringem Umfang umgesetzt wird und damit eine effektive
Stabilisierung der sich abzeichnenden Rezession verhindert wird“,
schreiben die Volkswirtinnen und Volkswirte. Inflationäre Gefahren gingen
von einem erneuten Aussetzen der Schuldenbremse für die hier diskutierten
Stabilisierungsmaßnahmen nicht aus, weil es bei diesen Maßnahmen vor allem
darum geht, den Einbruch der Konsumnachfrage zu begrenzen und eine
deutliche Unterauslastung der Kapazitäten zu verhindern. Nicht darum, die
Wirtschaft vom aktuellen Produktionsniveau weiter zu stimulieren.

Kerndaten der Prognose für 2022 und 2023
(siehe auch die Tabelle im Anhang bzw. Tabelle 2 im Report; Link unten)

– Arbeitsmarkt –

Die negativen Auswirkungen insbesondere des Ukrainekrieges auf die
Konjunktur beeinflussen auch die Arbeitsmarktentwicklung. Der positive
Trend bei der Erwerbstätigkeit schwächt sich durch die Rezession stark ab.
So legt die Zahl der Erwerbstätigen 2022 jahresdurchschnittlich noch um
1,3 Prozent zu. Für 2023 erwartet das IMK dann im Jahresmittel nur noch
einen geringen Zuwachs um 0,2 Prozent. Bei den Arbeitslosenzahlen
prognostiziert das IMK im Jahresdurchschnitt 2022 einen Rückgang um knapp
180.000 Personen, so dass im Jahresmittel rund 2,43 Millionen Menschen
arbeitslos sein werden. Das entspricht einer Quote von 5,3 Prozent. Für
2023 veranschlagen die Forschenden einen Trendwechsel hin zu einem
Wiederanstieg der Arbeitslosigkeit auf knapp 2,67 Millionen Arbeitslose,
was einer Quote von 5,8 Prozent entspricht. Auch die Zahl der
Kurzarbeitenden steigt, von 440.000 im Jahresmittel 2022 auf
durchschnittlich 550.000 im kommenden Jahr.

– Weltwirtschaft und Außenhandel –

Trotz nach wie vor hoher Auftragsbestände deutscher Unternehmen entwickelt
sich der Export sehr schwach. Das liegt an der aktuell relativ schwachen
Auslandsnachfrage, den hohen Energiepreisen und auch an weiter
angespannten Lieferketten, die es erschweren, ältere Bestellungen
abzuarbeiten. Von wichtigen Handelspartnern kommen nur wenig Impulse, weil
auch deren Konjunktur lahmt. In den USA schwächt sich das Wachstum auf 1,7
Prozent im Jahresmittel 2022 und auf 1,1 Prozent im kommenden Jahr ab.
China weist mit 3,2 bzw. 5,1 Prozent im langjährigen Vergleich niedrige
BIP-Zuwächse auf, auch weil die Null-Covid-Strategie und die
Immobilienkrise bremsen. Die Wirtschaft im Euroraum verliert durch den
Ukraine-Krieg ebenfalls drastisch an Dynamik: Das IMK veranschlagt hier
für 2022 ein Wachstum von 3,0 Prozent. Doch für 2023 prognostizieren die
Forschenden einen BIP-Rückgang um 0,3 Prozent.

Das hinterlässt tiefe Spuren im deutschen Außenhandel. Die Exporte
stagnieren nahezu im Jahresmittel 2022 (0,1 Prozent Zuwachs). 2023
schrumpfen sie um 2,0 Prozent im Jahresdurchschnitt. Die Importe legen
trotz der starken Preissteigerungen, vor allem bei Energie, zunächst noch
zu: Im Jahresmittel 2022 steigen die Einfuhren um 3,6 Prozent. 2023 sinken
sie dann aber ebenfalls um 2,0 Prozent. Trotz der Rückgänge bei den
Ausfuhren weist die deutsche Leistungsbilanz weiter einen Überschuss aus,
der in diesem und im kommenden Jahr jeweils zwischen drei und vier Prozent
beträgt.

– Investitionen –

Bei den Ausrüstungsinvestitionen wirken sich schwache Weltkonjunktur und
hohe Energiepreise ebenfalls stark negativ aus. Hinzu kommt, dass sich mit
den Leitzinserhöhungen der EZB die Finanzierungsbedingungen für
Unternehmen verschlechtern. Andererseits sind gerade in der
Investitionsgüterindustrie die Auftragsbestände außerordentlich hoch: Im
Juli 2022 lagen sie um 33 Prozent über dem Niveau vor Beginn der Corona-
Krise. Wenn sich, wie das IMK erwartet, die Engpässe bei Vorprodukten
auflösen, dürften die Unternehmen diese Aufträge zunehmend abarbeiten
können. Hinzu kommen höhere staatliche Investitionen, etwa für die
Energiewende, sowie steigende Rüstungsausgaben. Unter dem Strich
entwickeln sich die Ausrüstungsinvestitionen laut IMK-Prognose schleppend,
aber positiv: 2022 steigen sie um 2,0 Prozent im Jahresmittel, 2023 um 1,0
Prozent.

Die in den Vorjahren kräftigen Bauinvestitionen brechen hingegen wegen der
Kosten- und Zinssteigerungen ein, vor allem 2023. Nach einem geringen
Wachstum von 0,5 Prozent im Jahresmittel 2022, gehen sie 2023 um
jahresdurchschnittlich 5,0 Prozent zurück.

– Einkommen und Konsum –

Die starke Teuerung drückt drastisch auf die realen Einkommen. Für dieses
Jahr veranschlagt das IMK nach Abzug der Inflation einen Rückgang um 2,4
Prozent im Jahresdurchschnitt. Da die privaten Haushalte in Summe aber
deutlich weniger sparen, wirkt sich das 2022 noch nicht auf die
durchschnittliche Veränderungsrate des privaten Konsums vollends aus. Der
wächst im Jahresmittel um 4,0 Prozent, wobei dieser Wert die Dynamik weit
überzeichnet (die Jahresverlaufsrate beträgt nur 0,4 Prozent). Im
kommenden Jahr sinken die verfügbaren Einkommen real um durchschnittlich
3,9 Prozent, der private Konsum um 2,5 Prozent.

– Inflation und öffentliche Finanzen –

Der Ukraine-Krieg treibt die Inflation in diesem Jahr zeitweilig auf
Rekordhöhen. Im Jahresdurchschnitt 2022 rechnet das IMK mit 7,8 Prozent
Inflation. 2023 geht die Teuerungsrate etwas zurück, bleibt im
Jahresmittel jedoch abermals weit über dem Inflationsziel der Europäischen
Zentralbank: Das IMK prognostiziert 5,7 Prozent.

Die Steuereinnahmen entwickeln sich schwächer. Zugleich setzt der Staat
zur Krisenbekämpfung viel Geld ein, unter anderem für Stützungsmaßnahmen
für Bürger und Unternehmen, zur Flüchtlingsaufnahme und ab 2023 für höhere
Verteidigungsausgaben. Das trägt zur Stabilisierung der Konjunktur bei,
führt aber auch dazu, dass das Defizit im öffentlichen Budget höher ist
als nach dem Abklingen der akuten Corona-Krise erwartet. Nach 3,7 Prozent
2021 ergibt sich für 2022 ein Haushaltsdefizit von 1,9 Prozent des BIP.
Für 2023 prognostiziert das IMK ein Defizit von 2,1 Prozent.