Anfang März fand der 13. Nachsorgekongress der ZNS – Hannelore Kohl
Stiftung und der Arbeitsgemeinschaft Teilhabe, Rehabilitation, Nachsorge
und Integration nach Schädelhirnverletzung (AG Teilhabe) in Regensburg
statt. Wie auch in den Vorjahren trafen Vertreter der Bundes- und
Landespolitik, von Leistungs- und Rehabilitationsträgern sowie Betroffene
und Angehörige zusammen, um in zahlreichen Podiumsbeiträgen,
Diskussionsforen, Workshops und Interviews die aktuelle
Versorgungssituation von Menschen mit erworbener Hirnschädigung zu
beleuchten. Besonderer Fokus lag auf dem neu geschaffenen Angebot der
Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB).
„Es ist so anstrengend, für mein Gehirn mitdenken zu müssen“, sagt die
sympathische Frau; ihre blauen Augen blicken offen ins Publikum. Andrea
Kuschel, der man ihre 58 Jahre nicht ansieht, steht neben der
Sozialpädagogin Gabriele Stamm. Beide zusammen bilden im Kreis Viersen –
nahe der niederländischen Grenze – ein Beraterteam der EUTB. Sie stellen
auf dem 13. Nachsorgekongress, der Anfang März in Regensburg stattfand,
ihre Tätigkeit vor. Die Sympathie, die ihnen von den 350 Teilnehmenden des
Kongresses entgegengebracht wird, ist förmlich mit den Händen zu greifen.
Kuschel ist selbst gelernte Pflegekraft und habe bis zu dem Moment, als im
Jahr 2007 eine Gehirnblutung ihr Leben schlagartig veränderte, zahlreiche
Fach- und Weiterbildungen absolviert – auch zum Thema Hirnschädigung. Aber
sämtliche Fortbildungen hätten sie nicht annähernd auf das vorbereitet,
was ihr seit der Hirnschädigung tatsächlich täglich abverlangt werde.
Von jetzt auf gleich aus dem alltäglichen Leben gerissen zu werden – ein
Schicksal, das sich Nicht-Betroffene kaum vorstellen können. Die Folgen
nach erlittenen Schädelhirnverletzungen sind weitreichend und erstrecken
sich in alle Lebensbereiche. Allein aufgrund von Unfällen erleiden 270.000
Menschen jährlich in Deutschland ein Schädelhirntrauma – zur Hälfte sind
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene betroffen. Ein Sechstel von ihnen
muss mit langanhaltenden oder dauerhaften Schäden des Gehirns weiterleben.
Für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und deren Angehörige stellen
spezialisierte Nachsorge-Angebote eine große Chance dar, um Schritt für
Schritt den Weg in ein verändertes Leben zu finden.
Individuelle Angebote sind nötig, um umfangreiche Teilhabe zu ermöglichen
Der 13. Nachsorgekongress stand unter dem Motto: „Bundesteilhabegesetz-
Umsetzung: Impulse aus dem Labyrinth?“ Mit Einführung des Gesetzes zur
Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung,
kurz Bundesteilhabegesetz (BTHG) sollen Betroffene am sozialen Geschehen
beteiligt und in die Gesellschaft integriert werden.
Wie wichtig dabei individuelle Angebote für Menschen mit erworbenen
Hirnschädigungen sind, verdeutlichen durchgängig alle Beiträge des
Kongresses. Vielfach wurden die aktuellen Versorgungslücken angesprochen.
Dr. Fried Eckart Seier, Leitender Arzt der Klinik für Neurologische
Rehabilitation am Bezirksklinikum Regensburg, wies beispielsweise auf das
mangelhafte Angebot von spezialisierten Tagesförderstätten für
schädelhirnverletzte Menschen hin. Eine Unterbringung im Pflege- oder
Altenheim werde deren Bedürfnissen oft nicht gerecht. Ihre
Beratungsbedarfe seien individuell: Junge Menschen mit erworbenen
Hirnschädigungen stünden oftmals am Anfang der Lebensplanung, bei der sich
dringende Fragen nach Berufsweg und Familienplanung stellten. Hingegen
hätten Ältere eher Probleme, dass ihr soziales und berufliches Umfeld die
dramatische Veränderung schlecht akzeptieren kann. Seier: „Eine
entscheidende Herausforderung nach der Hirnschädigung ist die Schaffung
eines neuen Selbstbildes. Hier hat die Versorgung mit besonderen Facetten
im Leistungsangebot Rücksicht zu nehmen“.
Bedeutende Funktion kommt dabei der 2018 eingeführten Ergänzenden
unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) zu.
EUTB als Chance für beide Seiten: Betroffene und Beratende
Alfons Polczyk vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gab
einen Überblick über die neue Beratungssituation: 511 Beratungsstellen
sind inzwischen geschaffen, wofür der Bund jährlich 58 Millionen Euro zur
Verfügung stellt.
Ihre Funktion: durch individuelle Beratung den Betroffenen und ihren
Angehörigen gezielte Unterstützung anzubieten und damit die
selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Die
Beratung soll unabhängig von den Leistungsträgern bzw. -erbringern und
gleichzeitig parteilich im Sinne des Ratsuchenden erfolgen. Hierbei spielt
die Peer-Beratung durch Betroffene und Angehörige eine große Rolle. Denn
aufgrund ihrer Erfahrungen können sie den Ratsuchenden Kenntnisse über das
System vermitteln.
Gabriele Stamm beobachtet beispielsweise während der gemeinsamen
Beratungen mit ihrer hirnverletzten Kollegin Andrea Kuschel, dass die
Ratsuchenden sehr viel schneller Vertrauen fassten, häufig andere Fragen
stellten und insgesamt eine viel größere Offenheit in der
Beratungssituation herrsche. „Ich muss mir fast schmerzhaft eingestehen“
verrät die Sozialpädagogin, „dass selbst die größte Empathie die
Diskrepanz zwischen theoretischem Einfühlen und dem Einfühlen aus eigener
Erfahrung nicht ersetzen kann“.
„Ich bin Fachexpertin für Hirnschäden. Ich habe selbst einen“
Andrea Kuschel drückt es mit anderen Worten aus: „Ich bin Fachexpertin für
Hirnschäden. Ich habe selbst einen, deshalb kann ich mich besonders gut in
die Lage der Geschädigten hineinversetzen“. Damit werde die Erfahrung mit
der Behinderung zur Qualifikation für die Beratung in der EUTB. „Wir sehen
die EUTB als einen wichtigen Schritt zur inklusiven Gesellschaft: aufgrund
der Zusammenarbeit in einem inklusiven Team, das stets auch über Haltung
und Ausrichtung reflektiert“, so Gabriele Stamm.
Für Kuschel als Betroffene sei es wichtig, wieder gebraucht zu werden, für
andere da sein zu können und am ersten Arbeitsmarkt beteiligt zu sein.
Offen spricht Kuschel aber auch Problematisches an: aufgrund der
halbseitigen Lähmung und des eingeschränkten Gesichtsfeldes entgingen ihr
oft Reaktionen in Mimik und Gestik des Gegenübers.
Deshalb sei die Tandem-Arbeit mit der Sozialpädagogin Stamm für beide
Beraterinnen ein Gewinn. Es sei notwendig, gemeinsam zu arbeiten und zu
lernen, um voneinander zu profitieren. Sich gegenseitig zu unterstützen,
damit Betroffenen die beste Unterstützung zuteil wird. Einem Statement
gleich äußerten sie den Wunsch, dass die EUTB sich als Marke etablieren
möge.
Die verschiedenen Redebeiträge und Ergebnisse der Workshops und
Diskussionsforen machten weitere Aspekte der Beratung deutlich: Zeit und
Raum für Individualität spielten eine bedeutende Rolle. Gabriele Stamm:
„Der Berater muss sich zurücknehmen und am Tempo und den Zielvorgaben des
Betroffenen ausrichten. Er ist nur der Lotse, der dem Kapitän hilft, das
Boot zu steuern – am besten mit der gesamten Crew, also zusammen mit den
Angehörigen, Therapeuten und möglicherweise auch den Ärzten und anderen
Helfern“. Anfangs sei sicher mehr Unterstützung nötig, aber das Ziel sei
es, dass der Ratsuchende irgendwann wieder eigenständig das Ruder in
seinem Leben übernehme, wenn möglich. Der Weg dahin müsse von ihm
selbstbestimmt sein.
Finanzierung der EUTB derzeit nur bis 2022 gesichert, „aber es muss
weitergehen“
Bei aller Begeisterung für das neue Beratungstool – einen Wermutstropfen
lieferte der Hinweis von Alfons Polczyk: Die Förderung der EUTB aus
Bundesmitteln sei derzeit nur bis Ende 2022 geregelt. Laut
Koalitionsvertrag soll die Finanzierung geschützt werden, allerdings
müssen die dafür notwendigen Haushaltsmittel ab 2023 erst noch bewilligt
werden. Für Polczyk ergibt sich damit einerseits die Chance, bei den
entsprechenden Verhandlungen anhand der tatsächlichen Bedarfe
nachzujustieren, aber auch das Erfordernis, nach neuen
Finanzierungsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Eventuell müssten die
Mittel aus dem BMAS-Haushalt erwirtschaftet werden. Polczyk ist dennoch
optimistisch, dass das Instrument der ergänzenden unabhängigen Beratung
weiterhin bestehen bleibe: „Es gibt hier kein Zurück mehr“.
Appell des Behindertenbeauftragten für Teilhabe und Inklusion
Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit
Behinderungen, Jürgen Dusel, betonte die Wichtigkeit einer guten
Schnittstellenarbeit. Die Abstimmung von medizinischen, beruflichen und
sozialen Belangen sei eine wichtige Voraussetzung, um Menschen mit
erworbenen Hirnschädigungen bestmöglich am Alltag teilhaben zu lassen.
Auch vor dem Hintergrund einer immer älter werdenden Gesellschaft müsse
Barrierefreiheit zum Qualitätsstandard werden. Er forderte weiterhin, dass
die Vermittlung von Wissen über Behinderungen Eingang gerade auch in die
medizinische Ausbildung finden müsse.
Darüber hinaus sprach er sich für ein stärkeres Miteinander in der
Gesellschaft aus: „Demokratie sind wir alle. Deswegen müssen alle Menschen
einbezogen sein, Demokratie braucht daher notwendigerweise Inklusion“.
Die Worte der ehemaligen bayrischen Landtagspräsidentin und Schirmherrin
des 13. Nachsorgekongresses Barbara Stamm betteten die gelungene
Veranstaltung ein: „Wir sind alle darauf angewiesen, dass es andere
Menschen gibt, die für uns da sind und für die wir da sein können. Der
Nachsorgekongress gibt Menschen mit erworbener Hirnschädigung und ihren
Angehörigen eine Stimme und vertritt in der Öffentlichkeit und im
gesellschaftlichen Diskurs ihre Interessen – das ist Lobbyarbeit im besten
Sinne.“
Bereits seit 2006 findet die Nachsorgekongressreihe statt und hat sich
inzwischen bundesweit für Betroffene, Praktiker aus Rehabilitation und
Nachsorge sowie für Vertreter der Kostenträger und Gesundheitspolitik als
interdisziplinäre Plattform zum konstruktiven Dialog etabliert. Besonderes
Kennzeichen dieser Veranstaltung: die inhaltsreichen Beiträge der
engagierten Redner und die gleichberechtigte Einbindung aller
Teilnehmenden liefert eine Basis, die direkten Austausch in einem
wertschätzenden Rahmen ermöglicht. Das Anliegen des Kongresses sei es
schon immer, Lösungen zu finden, die bedarfsgerecht an den Bedürfnissen
der Betroffenen und Angehörigen ausgerichtet sind, so die
Geschäftsführerin der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung, Helga Lüngen. Im
kommenden Jahr findet der Nachsorgekongress in Dresden statt.