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Stiftung Kindergesundheit: Der wirtschaftliche Druck auf die Kliniken
bedroht das Recht der Kinder auf die optimale Betreuung ihrer Gesundheit

Es gibt eine „Charta für Kinder im Krankenhaus“. Ihre wichtigsten Punkte
lauten: Das Recht auf bestmögliche medizinische Behandlung ist ein
fundamentales Recht, besonders für Kinder. Kinder im Krankenhaus haben das
Recht, jederzeit ihre Eltern bei sich zu haben. Sie sollten mit anderen
Kindern der gleichen Altersgruppe zusammen gepflegt werden und von
Personal versorgt werden, das in der Kinderpflege ausgebildet ist. Noch
werden diese Forderungen fast überall in Deutschland erfüllt, stellt die
Stiftung Kindergesundheit fest. Ob das auch in Zukunft so bleibt, sei
jedoch nicht mehr sicher, befürchtet die Stiftung: Immer mehr
Kinderkliniken werden zu Verlierern in einem System, das die Bedürfnisse
der kleinen Patienten aus Gründen der Wirtschaftlichkeit nicht mehr
ausreichend berücksichtigt.

„Die meisten Abteilungen für Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland
kennen heute keine starren Besuchszeiten mehr und nehmen Mütter und Väter
auch über Nacht auf“, schildert Kinder- und Jugendarzt Professor Dr.
Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit die heutige
Situation. „Sie beschäftigen ausgebildete und oft spezialisierte Kinder-
und Jugendärzte und ein geschultes Team aus Kinderkrankenschwestern,
Psychologen, Diätassistentinnen und anderen Berufsgruppen, Menschen, die
ihren Beruf aus Liebe zu den Kindern gewählt haben und in der Lage sind,
auf die speziellen Bedürfnisse der kleinen Patienten einzugehen. Sie
wissen, was ein krankes Baby braucht und wie man mit einem kleinen Kind
spricht. Sie kennen die Probleme, die es nur bei Kindern gibt, und die
Krankheiten, die für Kinder gefährlicher sind als für Erwachsene“.

In Kinderkrankenhäusern gibt es Spielzeug, Raum zum gemeinsamen Spiel, oft
auch einen Besucherkindergarten. In vielen Kliniken arbeiten Spezialisten
für die Schulung chronisch kranker Kinder, Sozialarbeiter für die
Betreuung der Familie und oft auch Lehrer, damit das Kind wegen seiner
Krankheit nicht allzu viel Stoff versäumt.
Kinder brauchen eine intensivere Pflege als Erwachsene
Das alles könnte schon bald der Vergangenheit angehören, befürchtet die
Stiftung Kindergesundheit. Kinder kosten nämlich Geld. Ihre Pflege ist
aufwendiger als die von Erwachsenen: Es werden längere Gesprächszeiten mit
den Angehörigen benötigt, es fällt ein höherer Zeitaufwand bei
Untersuchungen an, bei chronischen Krankheiten ist eine intensive
psychosoziale Betreuung unumgänglich. Deshalb liegen die Personalkosten in
Kinderkliniken rund 30 Prozent höher als in der vergleichbaren
Erwachsenenmedizin.

Aufgrund der geltenden diagnosebezogenen Fallpauschalen (diagnosis related
groups, DRGs)werden diese Kosten oft nur zu einem Teil erstattet und
müssen von den Kliniken mitgetragen werden. Für die Träger von Kliniken
ist das oft unwirtschaftlich und teuer.

Die drohenden Folgen laut Stiftung Kindergesundheit: Immer mehr
Kinderkliniken droht ein drastischer Personal- und Leistungsabbau oder
sogar die Schließung. Allein zwischen 1991 und 2015 wurde in Deutschland
102 Kinderstationen (inklusive Spezialabteilungen für Kinderchirurgie)
geschlossen, und viele weitere werden vermutlich noch folgen.
Kinder landen bei den Erwachsenen
Darunter leidet die flächendeckende Versorgung schon heute. Nach den
Empfehlungen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin sollte
eine Kinderklinik oder -abteilung in maximal 40 Minuten Fahrzeit und 30
Kilometer Fahrstrecke für den Patienten erreichbar sein. Das bedeutet:
Kinderstationen sollten nicht mehr als 80 Minuten Fahrzeit bzw. 60
Kilometer voneinander entfernt sein. „Diese Vorgaben werden jedoch bereits
heute teilweise nicht mehr erreicht“, so Professor Berthold Koletzko“. Es
werden immer mehr Kinder auf Erwachsenenstationen versorgt.

Probleme gibt es aber auch bei der Versorgung durch niedergelassene
Kinderärzte, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. Es gibt schon heute
dünn besiedelte Gegenden in Deutschland, in denen Eltern bis zu 30 km
zurücklegen müssen, um einen Kinder- und Jugendarzt zu erreichen. Immer
mehr Kinder müssen von Ärzten betreut werden, die dafür nicht ausgebildet
sind.

Wie das kommt? Für die heutigen Studenten der Medizin besteht in
Deutschland keine obligatorische Prüfungspflicht mehr im Fach
Kinderheilkunde. Nicht mal jeder fünfte Medizinstudent wird heute in
theoretischen Kenntnissen in diesem Fach mündlich geprüft. Praktische
Kenntnisse über die Besonderheiten der Erkrankungen von Säuglingen,
Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen bzw. die Besonderheiten der
Entwicklung, die Früherkennung und die Vorbeugung haben weniger als 10
Prozent der jungen Mediziner, die sich als Allgemeinärzte niederlassen.

Als Konsequenz der drohenden Entwicklung könnten sechsjährige Kinder mit
Leukämie eines Tages mit 80-Jährigen auf der Erwachsenenkrebsstation
zusammenliegen, Babys von Ärzten behandelt werden, die von Kinderheilkunde
nur wenig Ahnung haben und vielleicht zum ersten Mal einen Säugling sehen.
Die Kinder würden von Krankenschwestern und ‑pflegern betreut, die in
kindgerechter Pflege nicht ausgebildet sind.

Denn auch die Kinderkrankenpflege ist in ihrer Eigenständigkeit bedroht.
Um die von der EU angemahnte Harmonisierung der Berufsbilder in Europa
umzusetzen, ist es geplant, Kinderkrankenpflege, Erwachsenenpflege und
Altenpflege in einen Topf zu werfen und für alle drei Pflegesparten eine
allgemeine Ausbildung einzuführen. Wird die Spezialisierung auf die
Kinderkrankenpflege abgeschafft, droht ein nicht wieder gutzumachender
Schaden für kranke Kinder und deren Angehörige, befürchtet die Stiftung
Kindergesundheit.

Diese Befürchtung teilen alle, die tagtäglich Kinder und Jugendliche
medizinisch versorgen. In einem Offenen Brief haben sich vor kurzem 33
Fachgesellschaften und Organisationen rund um die Kinder- und
Jugendmedizin und aus der Eltern-Selbsthilfe an die Parteispitzen von CDU,
CSU und SPD gewandt, um den Beruf der hochspezialisierten Frauen und
Männer der Kinderkrankenpflege zu erhalten.

Wie kam es zu dieser Situation? Der Teufelskreis begann mit dem
Geburtenrückgang: 1966 kamen in beiden deutschen Staaten noch 1,3
Millionen Babys zur Welt. Dann setzte der Siegeszug der Pille ein und die
Geburten wurden immer weniger. 2015 wurden nur noch 737.575 Babys geboren,
darunter 147.905 Kinder ausländischer Eltern. Wer heute ein Kind bekommt,
gehört bereits zu einem „geburtenschwachen“ Jahrgang, deshalb wird die
Zahl der Geburten in den nächsten Jahren weiter abnehmen. Man braucht
weniger Klinikbetten, die Betten stehen häufiger leer, kosten Geld.
Kinder dürfen schneller nach Hause
Der verhängnisvolle Prozess wird durch weitere Faktoren noch verstärkt:

Die Kinderkliniken bemühen sich darum, den stationären Aufenthalt der
kleinen Patienten schon aus psychologischen Gründen auf die
geringmöglichste Zeit zu beschränken. 1985 blieben kranke Kinder
durchschnittlich 18,5 Tage in einer Klinik, heute dürfen sie schon nach
4,6 Tagen nach Hause. In diesen wenigen Tagen brauchen sie allerdings eine
sehr intensive Betreuung, der so genannte Pflegeaufwand ist deshalb hoch
und entsprechend teuer, sagt Professor Dr. Berthold Koletzko. Außerdem
wird bei etwa 25 bis 30 Prozent der Behandlungen die untere
Grenzverweildauer unterschritten, was wiederum mit hohen Abschlägen für
die Erlöse der Klinik verbunden ist.

Die Krankheiten von Kindern verlaufen oft in Wellen: Bei
Ansteckungsepidemien sind die Kinderkliniken überlastet, dafür sind zum
Beispiel in der Ferienzeit oft nur 40 Prozent der Betten belegt. Die hohen
Fixkosten der Kinderkliniken für die ständige Bereithaltung der Leistungen
sind aber im DRG-Vergütungssystem nicht berücksichtigt – für die Träger
der Klinik sind Kinder auch deshalb ein Verlustgeschäft. Sie müssen die
Behandlung der Kinder oft aus der Erwachsenenmedizin quersubventionieren.

Kinder müssen wegen anderen Krankheiten in einer Klinik aufgenommen werden
als Erwachsene. Sie brauchen keine künstlichen Hüften oder Herzkatheter
und andere kostenintensive Eingriffe, die den Betreibern der Klinik hohe
Einnahmen garantieren. Dafür haben Kinderkliniken einen hohen Anteil an
Akutfällen (80%) und eine hohe Notfallquote (50%). Hinzukommt, dass in den
ersten Lebensjahren viele Fälle von seltenen Erkrankungen entdeckt werden,
die in den Kinderkliniken betreut werden müssen. Diese Kinder benötigen
eine aufwendige Versorgung, für die jedoch wegen der geringen Fallzahl nur
selten eine angemessene Entlohnung vorgesehen ist.
Betreuung von Kindern angemessen entlohnen
Was tun? Die Stiftung Kindergesundheit verweist auf die 2016
veröffentlichten Empfehlungen des Deutschen Ethikrats („Patientenwohl als
ethischer Maßstab für das Krankenhaus“). Darin heißt es: „Eine Lösung der
skizzierten Probleme könnte darin bestehen, dass die die Kinder- und
Jugendmedizin charakterisierenden Faktoren, wie zum Beispiel sehr kurze
Verweildauern von Kindern im Krankenhaus oder eine vergleichsweise sehr
aufwendige pflegerische und psychologische Betreuung, angemessen, das
heißt kostendeckend im DRG-System berücksichtigt werden“.

Noch besser wäre es nach Ansicht des Ethikrats, „wenn die Kinder- und
Jugendmedizin komplett von dem Fallgruppen-Vergütungssystem der
Erwachsenenmedizin entkoppelt würde und entweder ein kinderspezifisches
eigenes DRG-System etabliert oder für die stationäre Kinder- und
Jugendmedizin ganz andere Abrechnungsmodi, etwa tagesgleiche Pflegesätze,
eingeführt würden“.

Um die verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen, sollten auch Eltern, wo
immer es geht, Druck ausüben, rät die Stiftung Kindergesundheit:  Auf
Gesundheitspolitiker von Bund, Ländern und Kommunen, auf
Krankenhausträger, Kassenfunktionäre und ärztliche Standesvertreter. „Es
muss ihnen klar gemacht werden: Wer die Renten der Alten sichern will,
muss zuerst die Interessen der Kinder in den Mittelpunkt stellen“, betont
Professor Berthold Koletzko mit großem Nachdruck. „Niemand schafft die
Feuerwehr ab, nur, weil es drei Jahre nicht gebrannt hat. Genauso brauchen
wir Kinderkliniken und Kinderärzte auch dann, wenn unsere Kinder gesund
sind. Damit sie auch gesund bleiben oder schnell wieder gesund werden“.

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