Pin It
Occupational Science Konferenz erstmalig auf europäischen Festland (v.l.n.r.) Prof. Dr. Ulrike Marotzki, Dr. Sandra Schiller, Dr. Ruth Zemke, Dr. Anne Roberts, Prof. Dr. Debbie L  HAWK
Occupational Science Konferenz erstmalig auf europäischen Festland (v.l.n.r.) Prof. Dr. Ulrike Marotzki, Dr. Sandra Schiller, Dr. Ruth Zemke, Dr. Anne Roberts, Prof. Dr. Debbie L HAWK

Zwei Tage lang diskutierten und tauschten sich jetzt 230 Teilnehmerinnen
und Teilnehmer aus 24 Ländern an der HAWK in Hildesheim zu der jungen
wissenschaftlichen Disziplin der Occupational Science (engl. für
Betätigungswissenschaft) aus. Die internationale Tagung mit dem Thema
„Meeting in Diversity – Occupation as a Common Ground“  („Treffen in
Vielfalt - Beschäftigung als gemeinsame Plattform“) fand in Kooperation
mit der Alice Salomon Hochschule Berlin und dem Netzwerk Occupational
Science Europe (OSE) statt und war erst die vierte europäische
Occupational Science Konferenz überhaupt. Organisiert wurde die Tagung von
Prof. Dr. Ulrike Marotzki, Dr. Sandra Schiller, und Dorothea Harth (alle
HAWK), Dr. Katharina Röse (OSE-Vorstandsmitglied) und Prof. Dr. Silke
Dennhardt (ASH).

Vizepräsident begrüßt internationale Gäste
„Für unsere Studierenden ist dies eine große Chance, die überwiegend
internationalen Forscherinnen und Forscher zu treffen, ihre Vorträge zu
hören und mit ihnen ins Gespräch zu kommen“, hob HAWK-Vizepräsident Prof.
Dr. Dieter Grommas in seiner Begrüßungsrede am ersten Konferenztag die
Eigeninitiative und den Pioniergeist der Studiengänge Ergotherapie,
Logopädie, Physiotherapie an der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
hervor.

Zukunftsszenarien bei der Vortagung
Schon zur Vortagung, dem sogenannten Think Tank, waren 70 der
Konferenzteilnehmer/innen früher nach Hildesheim angereist. Diese
Ideenschmiede wurde von einer seit 2015 bestehenden internationalen
Arbeitsgruppe, in der die HAWK durch Dr. Sandra Schiller vertreten ist,
vorbereitet. Nach einem Eröffnungsvortrag von Lisette Farias, Doktorandin
an der Western University in Kanada, befassten sich neun Kleingruppen
damit, wie durch eine betätigungsbasierte Perspektive aktuelle
gesellschaftliche Veränderungsprozesse analytisch angemessen erfasst und
durch eigenes Engagement in Forschung und Praxis beeinflusst werden
können. Zu Themenbereichen wie Armut und Arbeitslosigkeit, Migration und
ökologischer Nachhaltigkeit entwickelten die Teilnehmer/innen
Zukunftsszenarien und erste Schritte, die sie als neu gebildete
Arbeitsgruppen nach der Konferenz unternehmen wollen.

Gründerin der Occupational Science
Drei Keynote Sprecherinnen zeigten dann während der Konferenz
unterschiedliche Perspektiven in der Occupational Science auf. Die erste
war die Amerikanerin Dr. Ruth Zemke, emeritierte Professorin der
University of Southern California, sie zählt zu den Gründerinnen der
Occupational Science in den USA, die sich seit den neunziger Jahren des
20. Jahrhunderts im angloamerikanischen Raum zu einer
disziplinübergreifenden Wissenschaft entwickelte.

Die Occupational Science beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen
Betätigung, Gesundheit und Wohlbefinden, aber auch mit Fragen zur
Betätigung, die über die Gesundheit hinausgehen. Betätigung und ihr
Einfluss auf Gesundheit, Teilhabemöglichkeiten oder auch, was Betätigung
ermöglicht und verhindert, kann auf individueller Ebene, aber auch
gruppen- oder gesellschaftsbezogen untersucht werden. So ist in der
Occupational Science beispielsweise die Frage, inwieweit bestimmte
Bevölkerungsgruppen von sozialer Teilhabe und Gesundheit aufgrund
ungleicher Zugangsvoraussetzungen zu Betätigungen ausgeschlossen sind, ein
Forschungsgebiet.

In der ersten Keynote der Konferenz „Occupational Science: Yesterday,
Today, and Tomorrow“, gab Prof. Dr. Ruth Zemke einen Rückblick, einen
Einblick und einen Ausblick in den aktuellen Stand der Occupational
Science. Für die Einordnung der Wissenschaft stellte Zemke ihre
persönliche Kurz-Definition auf der Tagung vor: „Occupational Science (OS)
ist eine sich entwickelnde Wissenschaft, die alltägliche Betätigungen
erforscht, welche Menschen bevorzugt tun oder nicht verrichten mögen, aber
angehalten sind zu tun. Diese Dinge sind Teile unseres Lebens in die wir
eingebunden sind, die unserem Leben Sinn geben, und zeigen, wer wir sind.
Die Aktivitäten sind individuell verschieden. Dies ist ein interessanter
Forschungsgegenstand, um darüber zu lernen, wie Individuen handeln und die
Gesellschaft funktioniert.“

Als eine ihrer Gründerinnen zeigte sich Zemke beeindruckt, dass sich die
Wissenschaft so schnell entwickelt hat. Sie freute sich darüber, dass sich
die Occupational Science in immer mehr Ländern etabliert, sodass die
internationale Forschung auch zunehmend von der Vielfalt unterschiedlicher
soziokultureller Perspektiven auf Betätigung profitieren kann. Für die
Weiterentwicklung der Wissenschaft hofft sie, dass der Fokus von OS auf
der Forschung bleibt und nicht zu schnell in die konkrete praktische
Anwendung gewechselt wird. Es bedarf ihrer Auffassung nach fundierter
Grundlagen, um Betätigung gezielt für individuelle sowie gesellschaftliche
Veränderung einsetzen zu können.

Sozial-kritische und engagierte Wissenschaft
Diese Thematik vertiefte Prof. Dr. Debbie Laliberte Rudman von der Western
University London (Kanada). Sie hob eine politische Ausrichtung und
Verantwortung der OS als eine sozial-kritische und engagierte Wissenschaft
hervor. In ihrer Keynote verdeutlichte sie, dass es Aufgabe der OS sei,
auf die Diskriminierungen in den verschiedenen Kontexten im Zusammenhang
mit Betätigungsungerechtigkeit (occupational injustice) hinzuweisen und
soziale Veränderungen mitzugestalten.

Die Ergotherapie bereichert
Dass Occupational Science den Bereich der Ergotherapie maßgeblich
bereichert hat, betonte Prof. Dr. Anne Roberts, emeritierte Professorin
der University of Plymouth (UK) und Vorsitzende von Occupational Science
Europe (OSE) in der dritten Keynote. Durch den wissenschaftlichen Ansatz
der Occupational Science könne man an die Wurzeln der Profession gehen und
wissenschaftlich untersuchen, wie die Ergotherapie wirkt, um dann gezielt
Betätigungen vorschlagen zu können, die den Menschen bei der Genesung und
bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft helfen, sagte die
Ergotherapeutin aus England, die 2011 das europäische Netzwerk
mitgründete.

Erkenntnisse erweitern die Praxis
Die Erkenntnisse der Betätigungswissenschaften können die
ergotherapeutische Praxis um neue Ansätze erweitern, ergänzt Prof. Dr.
Ulrike Marotzki. Lebensumbrüche zum Beispiel, wie das Ausscheiden aus dem
Berufsleben, sind mit der Anforderung verbunden, sich neu zu orientieren.
Dies kann zu einer gesundheitlichen Belastung werden. Warum dies so ist,
erforscht beispielsweise die Occupational Science. Für die therapeutische
Praxis können hier Fragen abgeleitet werden: Welche Rollen hat ein Mensch
bisher ausgefüllt und welche Hilfestellungen braucht er, um eine neue
Rolle zu finden? Mit dem Wissen um Auswirkungen von Lebensübergängen auf
die Betätigungen eines Menschen können diese in der Ergotherapie besser
begleitet werden und Ergotherapie kann einen Beitrag zur
Gesundheitsprävention leisten.

Bereicherung durch europäische Sichtweisen
„Hier in Europa gibt es viel mehr Diversity“, zeigte Prof. Dr. Debbie
Laliberte Rudmann von der Western University of Ontario aus Kanada einen
der grundlegenden Unterschiede zwischen OS in Nordamerika und Europa auf.
Die Ergotherapie und die Betätigungswissenschaft stehen besonders im
europäischen Raum im direkten Austausch und entwickeln sich gegenseitig
weiter. „Durch die Occupational Science kann sich die Ergotherapie im
Allgemeinen über das Gesundheitssystem hinaus entwickeln und auch
Themenfelder wie Arbeitslosigkeit, Armut oder die Flüchtlingsproblematik
angehen - zu denen viel in den Betätigungswissenschaften geforscht wurde.“
„Occupational Science lief Gefahr, nur die englischsprachige Welt
abzubilden, daher ist es gut, dass die Wissenschaft jetzt durch neue
Stimmen und kulturelle Kontexte bereichert wird“, bewertete Prof. Dr.
Clare Hocking, Chefredakteurin des Journal of Occupational Science sowie
Professorin für Occupational Science und Therapie an der Auckland
University of Technology (AUT) in Neuseeland, die Konferenz.
An der HAWK wird Occupational Science als eine Grundlagenwissenschaft der
Ergotherapie verstanden; in einem zweiteiligen Modul beschäftigen sich die
Studierenden der Ergotherapie im Masterstudiengang mit der Perspektive:
„Was heißt eigentlich Betätigung im Alltag?“. Als Quellen dienen
überwiegend englische Texte. „Es ist aktuell noch eine kleine Gruppe, die
OS wahrnimmt und sich damit auseinandersetzt“, sagt Professorin Dr. Ulrike
Marotzki von der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, aber sie setze
viel auf die junge Generation, die sich jetzt im Rahmen ihres Studiums mit
diesen Perspektiven auf menschliche Betätigung beschäftigt. Gerade in der
täglichen Arbeit, wie zum Beispiel in der Arbeitsrehabilitation oder in
der Gemeinwesen orientierten Ergotherapie, wozu Dr. Sandra Schiller an der
Fakultät und in Hildesheim einen wesentlichen Beitrag leistet, könne diese
Art der Forschung die Ergotherapie durch ein umfassenderes
Rollenverständnis maßgeblich bereichern.

Deutschsprachige Arbeitsgruppe geplant
Neben der Gründung einer deutschsprachigen Arbeitsgruppe der Occupational
Science, die auf der Konferenz beschlossen wurde, soll die Wissenschaft
als wichtige Grundlage der Ergotherapie auch Einzug in den
Bachelorstudiengang erhalten, versprach Prof. Dr. Marotzki
zukunftsweisend. Prof. Dr. Silke Dennhardt, Professorin für Ergotherapie
an der Alice Salomon Hochschule und Mitorganisatorin der Konferenz, zog
eine positive Bilanz dieser ersten Occupational Science Konferenz in
Deutschland: „Die Konferenz bot die ideale Austauschplattform, um sich
untereinander zu vernetzen und sich von der Vielfalt der Ideen und
Perspektiven innerhalb der internationalen Occupational Science bereichern
zu lassen. Mit dieser Konferenz ist es uns zum ersten Mal gelungen,
nordamerikanische und europäische Wissensdiskurse in der Occupational
Science zusammenzubringen, was von vielen Teilnehmer/inne/n, gerade auch
aus dem internationalen Raum, als besonderes Ereignis herausgestellt
wurde.“

Dank an Organisation
Die Vielfältigkeit der Beiträge und Diskussionen auf der Konferenz
spiegelt sich nicht zuletzt auch in den vielen Ländern wider, aus denen
die 230 Forscher/innen und Teilnehmer/innen anreisten. So kamen sie aus 13
europäischen Ländern (Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Finnland,
Irland, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden Schweiz
Spanien), sowie elf weiteren Ländern (Argentinien, Australien, Brasilien,
Israel, Japan, Kanada, Neuseeland, Pakistan, Katar, Südafrika, USA) nach
Hildesheim. Durch die erstmals eingesetzte Live Stream Technik der HAWK
waren zu einigen Präsentationen Teilnehmer/innen aus weiteren Ländern, wie
beispielsweise Frankreich, Georgien oder Kroatien, virtuell zugeschaltet.
Auch  zwei Deutschlerner aus Syrien, die an dem HAWK-Open-Programm für
Menschen mit Fluchterfahrung teilnehmen, nutzten die Möglichkeit, ihre
eigenen akademischen Hintergründe aus der Heimat mit der
interdisziplinären Agenda der Occupational Science  zu verknüpfen.
Dass auf dieser Konferenz reichhaltige Diskussionen und neue theoretische
sowie persönliche Verbindungen entstanden, lag vielen Teilnehmer/inne/n zu
Folge nicht zuletzt an der offenen, freundlichen und lebendigen
Atmosphäre. Hierfür wurde Dorothea Harth aus dem Organisationsteam auf der
Abschlussveranstaltung besonders gewürdigt, da sie mit ihrer Arbeit und
ihrem Organisationstalent wesentlich zur Entstehung dieser Atmosphäre und
dem reibungslosen Ablauf der Konferenz beitrug.