Pin It

Spin-off der Uni Hohenheim entwickelt virtuelle Entspannungs-, Bewegungs-
und Atemübungen, speziell für kranke, demente oder bettlägerige Menschen.

Bewegung auf grüner Wiese oder eine entspannende Bootsfahrt auf dem
Bodensee statt trister Krankenzimmerwände: Mit diesem Angebot will ein
Start-up der Universität Hohenheim in Stuttgart Patienten in
Krankenhäusern und Menschen mit eingeschränkter Mobilität zu mehr
Lebensqualität verhelfen. Das Uni-Spin-Off ANDERS VR produziert
maßgeschneiderte Visualisierungen in Virtueller Realität und entwickelt
eine selbstlernende App, die sich individuell auf den Nutzer einstellt.
Ihre Entwicklung könnte helfen, psychische Belastungen bei Patienten
auszugleichen, den Medikamenten-Einsatz in Kranken- und Pflegehäusern zu
senken und Patienten körperlich und geistig zu aktivieren. Das
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie sowie der Europäische
Sozialfonds förderten das Start-up über das EXIST-Gründerstipendium mit
145.000 Euro.

Karl ist 90 Jahre alt und macht zum ersten Mal im Leben Yoga – vom Sofa
aus. Sein Zimmer im betreuten Wohnen in Stuttgart-West muss er dazu nicht
verlassen: Eine Virtual Reality-Brille bringt ihn auf eine grüne
Sommerwiese, auf der ihm ein persönlicher Coach direkt gegenübersitzt. Die
sanften Übungen kann er ganz entspannt mitmachen.

Karl ist mit 90 Jahren einer der ältesten Probanden, der das
therapeutische Virtual Reality-Angebot der Firma ANDERS VR testet. ANDERS
VR-Gründer Dr. Andreas Haas vom Fachgebiet Versicherungswirtschaft und
Sozialsysteme der Universität Hohenheim und sein Team dokumentieren die
Reaktionen ihrer Tester mit der Filmkamera und führen Befragungen durch,
um die Virtual Reality-Inhalte kontinuierlich zu verbessern. Die positiven
Reaktionen von Karl und anderen Probanden haben sie in ihrer Idee
bestätigt: Virtuelle Ausflüge in gewohnte Umgebungen mit therapeutischem
Nutzen.

Virtuelle Realität als Ergänzung zur Psycho- und Physiotherapie

ANDERS VR bietet Patienten erstmals die Möglichkeit, mit 360-Grad-
Aufnahmen für eine gewisse Zeit dem Krankenzimmer zu entfliehen. Über eine
App können verschiedene Szenarien gewählt werden, zum Beispiel
Naturaufnahmen, angeleitete Atemübungen oder Entspannungssequenzen und
auch leichte Bewegungsübungen. In jedem Fall wird der Patient in die Natur
gebracht: in den Sonnenaufgang auf dem Berg, in die Abendsonne am See, in
den Wald oder auf eine Wiese.

ANDERS VR spricht mit zahlreichen eigens produzierten Inhalten
verschiedene Fachbereiche und dadurch eine Vielzahl von Patienten im
Krankenhaus an. Ein Fokus wird derzeit auf Krebspatienten und Patienten in
der Schmerztherapie gelegt. Ebenso ist demnächst der Einsatz in der
Orthopädie, bei Querschnittspatienten und in der Palliativmedizin
vorgesehen.

Psychologische Belastung mit hohen Folgekosten

Für Dr. Haas und sein Team geht es darum, die bislang angebotene Betreuung
nachhaltig zu ergänzen, um die psychologischen und physiologischen Folgen
langer Krankenhausaufenthalte aufzufangen.

„Wir nehmen ein Problem mit gravierenden ökonomischen Folgen in den
Fokus“, erläutert Wirtschaftswissenschaftler Dr. Haas. „Die psychologische
Belastung des Patienten kann Einfluss auf die Behandlungszeit und auch den
Behandlungserfolg haben, weil Therapien abgebrochen oder nicht gut
angenommen werden.“

Geschätzte 300 Millionen Euro Folgekosten entstehen daraus pro Jahr. Und
es könnten mehr werden, wenn Krankenhäuser aus Kostengründen weniger
Therapeuten beschäftigen können. Entsprechend positiv sei der Zuspruch der
Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, mit denen die Entwickler im
Gespräch sind, so Dr. Haas.

Dem Krankenzimmer entkommen

Dr. Haas hat im engsten Familienkreis selbst miterlebt, wie die
wochenlange Isolation während einer Chemotherapie einem Menschen zu
schaffen macht: „Der Patient auf der Station ist von der Außenwelt
abgeschnitten, der menschliche Kontakt besteht über lange Zeit nur zu
Pflegepersonal, deren Gesichter hinter dem Mundschutz verschwinden.“

Das sei natürlich eine extrem belastende Situation für den Betroffenen:
„Ab einem Punkt fühlt man sich hilflos, auch weil das ganze Leben des
Betroffenen nun isoliert in einem kleinen Raum oder sogar nur in einem
Bett weitergehen muss.“ Die Krankenhäuser seien bemüht, hätten aber
oftmals auch nur beschränkte Möglichkeiten, den Patienten auf der
therapeutischen Seite wirklich intensiv zu betreuen. Verschärft wird diese
Situation durch den zunehmenden Kostendruck im deutschen
Gesundheitssystem.

An diesem Problem, das letztlich für viele Krankheitsbilder zutrifft,
setze ANDERS VR an: „Wir nehmen den Patienten an die Hand, versetzen ihn
mithilfe von Virtueller Realität in eine angenehme und beruhigende
Umgebung. Dort begleiten wir ihn bei der Entspannung, der richtigen Atmung
und bei leichten Bewegungsübungen – und zwar dann, wann der Patient es
wünscht und benötigt.“

In die Entwicklung sei bereits viel spezifisches Therapiewissen
eingeflossen. Derzeit arbeite das Team daran, ANDERS VR möglichst gut in
bestehende Abläufe im Krankenhaus zu integrieren, berichtet Dr. Haas. „Ich
glaube, wir haben hier eine enorme Chance, das Medium der Virtuellen
Realität sinnvoll und nachhaltig einzusetzen. Und wir sehen momentan sehr
deutlich, dass die Nachfrage nach ANDERS VR gegeben ist.“

Von der Uni auf die Station

Die enge Zusammenarbeit mit Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ist dem
ANDERS VR-Team besonders wichtig. Nach Tests mit einzelnen kleinen Gruppen
folgten weitere Pilotprojekte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.
In welchen Fachbereichen ANDERS VR dabei zum Einsatz kommt, wird mit den
Krankenhäusern individuell festgelegt.

„Die Atemübungen sind beispielsweise ein wichtiger Punkt, bei dem sich die
Krankenhäuser unter anderem einen präventiven Nutzen bei der Vermeidung
von Lungenentzündungen erhoffen. Das kann die Verweildauer verkürzen und
die Genesung unterstützen. Aber auch der Einsatz von Entspannungsinhalten
in der Schmerztherapie wird mit den Krankenhäusern konkretisiert.“

Teammitglied Manuel Döbele agiert hierbei als Schnittstelle zwischen
ANDERS VR und den Krankenhäusern: Nach Abschluss des Masters in Health
Care und Public Management an der Universität Hohenheim ist er im Vertrieb
bei der Allianz in Stuttgart tätig und hat dadurch Einblick in die
praktischen Strukturen des deutschen Gesundheitswesens.

Lernfähige App für individuell zugeschnittene Therapie-Angebote

Physiotherapeuten, Psychologen und andere Experten beraten das Team bei
der Entwicklung der Inhalte, die auf die Situation der Patienten
zugeschnitten sind. Sie berücksichtigen zum Beispiel, ob ein Patient im
Krankenbett nur flach liegen oder auch aufrecht sitzen kann, erklärt Dr.
Haas: “Wir simulieren bei unseren Tests die unmittelbare Umgebung und
Bewegungsfreiheit des Patienten: Infusionskabel, Sitzpositionen oder auch
die Ausmaße von Krankenbetten müssen berücksichtigt werden, um ausladende
Armbewegungen zu verhindern.“

Solche Einstellungen soll die Software sich merken, aber auch das
Nutzerverhalten der Patienten verstehen, plant Dr. Haas. „Wenn ein Patient
zum Beispiel regelmäßig längere Sequenzen bevorzugt, merkt sich das die
Software und bietet in Zukunft präferiert Inhalte in der entsprechenden
Länge an. Außerdem wird die Software nach jeder Sequenz kurz abfragen, ob
diese dem Patienten gefallen und gut getan hat.“

Die ANDERS VR-App richtet sich zunächst konkret an Therapeuten, die ihr
eigenes Programm um ANDERS VR erweitern. “Wir bieten Therapeuten komplett
neue Möglichkeiten, den Patienten auch über die verfügbare persönliche
Therapiezeit hinaus zu unterstützen. In Zusammenarbeit mit den Kliniken
wollen wir den Patienten motivieren und anleiten, die Zeit im Krankenbett
sinnvoll zu nutzen und wichtige Übungen eigenständig zu wiederholen”,
erklärt Manuel Döbele.

Virtual Reality neu denken

Mit bestehenden Virtual Reality-Angeboten haben die Inhalte von ANDERS VR
wenig zu tun. „Die Angebote für den regulären Markt richten sich an Leute,
die ein aufregendes Wow-Erlebnis haben wollen“, so Dr. Haas. „Unser Ziel
ist es hingegen, die Nutzer zu beruhigen, zu unterstützen und zu
begleiten. Hierbei müssen einige Aspekte berücksichtigt werden. Schnelle
Kamerabewegungen sind tabu, die Ich-Perspektive in der Virtuellen Welt
muss der tatsächlichen Position des Nutzers entsprechen - sonst wird den
Nutzern schlecht oder schwindelig. Wir achten darauf und verhindern das.“

Wichtig sei auch die Normalität, die vielen Patienten fehle. Dazu zählt
auch der Anblick eines Menschen, der keine medizinische Schutzkleidung
trägt. Die Entwickler haben bewusst auf animierte Figuren und Umgebungen
verzichtet, um das Erlebnis so realistisch wie möglich zu machen.

Solche Inhalte in hochwertiger Qualität herzustellen ist aufwendig. Mit im
Team ist deshalb der Filmemacher Stefan Bünnig, der die sieben- bis
15-minütigen Filme erstellt. „Von der Konzeption bis zum fertigen
therapeutischen Virtual Reality-Erlebnis vergehen zwei bis drei Monate“,
erklärt Bünnig.

Für die hohen technischen Anforderungen der 360-Grad-Filme gäbe es bislang
keine standardisierte Technik. „Wir bauen deshalb gerade unser eigenes
Kamerasystem aus mehreren Kameras, deren Bilder am Ende zusammengesetzt
werden.“ Die Werkstatt der Universität Hohenheim unterstützt die Gründer
bei der mechanischen Konstruktion des Kamerasystems. „Die Unterstützung
der Universität ist für uns hier ein sehr wertvoller Aspekt bei EXIST“,
sagt Stefan Bünnig.

Personalisierte Inhalte für Demenzkranke

Schon jetzt arbeiten die ANDERS VR-Macher an Angeboten für weitere
Zielgruppen, zum Beispiel für Demenzkranke. Ein erster Test in Kooperation
mit der „Demenzpflege Riedlingen“ sei überwältigend positiv verlaufen,
berichtet Dr. Haas.

”Wir setzen bei den Demenzlotsen auf regionale Landschaften und Inhalte.
Unter den Testern waren Personen, die sonst kaum mehr reden oder wenig auf
äußere Reize wie Fernsehen reagieren. Das ändert sich beim Einsatz von
unseren VR-Inhalten, in denen sich die Menschen wiederfinden. Wir sehen
demenzkranke Menschen, die plötzlich wieder lachen, über das Gesehene
reden und sich an Vergangenes erinnern.“

Attraktiv für Demenzkranke könnten personalisierte Inhalte sein, bei denen
die Szenerie an die Biografie der Patienten anknüpft. „Ein Patient aus
Norddeutschland könnte zum Beispiel einen Film zu sehen bekommen, der am
Strand spielt“, führt Filmemacher Bünnig die Idee aus. „Auch Städte aus
der Heimatregion, Bilder von lokalen Festen und Umzügen oder ein Sprecher
mit heimischem Dialekt könnten diese Vertrautheit schaffen. Wir sehen hier
einen spannenden Forschungsbereich, der noch ganz am Anfang steht.“

Anpassung der Hardware notwendig

Auch die nötige Hardware hat das Team von ANDERS VR an die vorgesehene
Nutzung angepasst: Die VR-Brillen sind komplett desinfizierbar, für die
Kontaktstelle zwischen Gesicht und Hardware haben die Gründer einen
gepolsterten Lederaufsatz entwickelt und fertigen lassen. Die
Hygienestandards im Krankenhaus werden dadurch erfüllt, und die VR-Brille
kann auch in sensiblen Bereich des Krankenhauses, wie z.B. im OP-Saal, der
Intensivstation oder auf einer Isolationsstation für Leukämiepatienten zum
Einsatz kommen. Um die Krankenhaustechnik nicht zu stören, stellt ANDERS
VR alle Inhalte offline auf dem Gerät zur Verfügung.

Eine spezielle Entwicklung im Altenheim hat ANDERS VR mit dem VR Demenzhut
angestoßen: In einer Kooperation mit den Demenzpflege Riedlingen wird die
VR-Brille optisch so verändert, dass der technische Charakter des
Produktes verschwindet. Die VR-Brille wird in einen klassischen Hut
integriert, der den Menschen optisch vertrauter ist als der heutige
technische Charakter der Brille. Damit soll eine der derzeit größten
Hürden im Demenzbereich – nämlich den Menschen die Brille aufzusetzen –
deutlich vereinfacht werden.

Personalisierung und Plattformsystem: Viele weitere Ideen

In der weiteren Entwicklung will das Team von ANDERS VR Inhalte und
Therapiekonzept immer stärker personalisieren. „Gerade in unserem
Marktsegment ist es wichtig, dass die Inhalte sehr vielfältig einsetzbar
sind und an die einzelnen Patienten angepasst werden können“, so Dr. Haas.
„Nur so wird das Angebot von den Patienten auch angenommen.“

Langfristig wollen die Macher das Angebot in eine Plattform umwandeln, auf
die auch andere Produzenten Inhalte aufspielen können. „Natürlich müssen
andere Anbieter die therapeutischen Anforderungen für VR-Inhalte erfüllen.
Auch wir entwickeln unsere Inhalte nach strengen Vorgaben“, betont Dr.
Haas. Die VR-Brille, das notwendige Handy sowie das Tablet zum Auswahl der
Inhalte, als auch die Inhalte vermietet ANDERS VR als Paket an
interessierte Einrichtungen.

Hintergrund: EXIST-Gründerstipendium

EXIST ist ein Förderprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Energie (BMWi), das durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) kofinanziert
wird. Es richtet sich gezielt an Studierende und Wissenschaftler an
Universitäten mit dem Ziel, eine nachhaltige Gründungskultur und
technologieorientierte, wissensbasierte Unternehmensgründungen zu fördern.

Hintergrund: Gründungsförderung an der Universität Hohenheim

Ob virtuelle Realität, Unternehmensberatung oder ökologisches
Kleingartensystem: An der Universität Hohenheim sind bereits eine Reihe
von kreativen Start-ups entstanden. Die Universität unterstützt
unternehmerisches Talent mit Angeboten wie der Start-up Garage, bei der
Studierende kooperativ und zwanglos Ideen für neue Produkte und Services
entwickeln können. Dahinter steckt das Projekt „Homa“, kurz für „Hohenheim
macht“, für das die Universität vom Land gut eine halbe Million Euro
Fördergeld eingeworben hat, um für mehr Unternehmergeist an der Uni zu
sorgen.

Weitere Informationen:
Homepage ANDERS VR: https://www.anders.life/