Pin It

Bisher waren die etwa 6000 Menschen in
Deutschland, die an einer schweren Hämophilie A oder B leiden, auf
regelmäßige Infusionen mit Gerinnungsfaktoren angewiesen. Neben neuartigen
therapeutischen Antikörpern könnte zukünftig auch eine Gentherapie vor
lebensgefährlichen Blutungen schützen. Die Deutsche Gesellschaft für
Transfusionsmedizin und Immunhämatologie (DGTI) rechnet damit, dass diese
neue Behandlungsoption in einigen Monaten verfügbar sein wird.

Eine Hämophilie A oder B entsteht aufgrund von Störungen einzelner Gene,
die die ausreichende Bildung der Gerinnungsfaktoren VIII oder IX
verhindern. „Früher starben die Betroffenen häufig schon im Kindesalter an
Blutungen“, erläutert Professor Dr. med. Hermann Eichler vom
Universitätsklinikum des Saarlandes. „Heute haben Menschen mit schwerer
Hämophilie hingegen eine normale Lebenserwartung“, fügt der Direktor des
universitären Instituts für Klinische Hämostaseologie und
Transfusionsmedizin hinzu.

Die meisten Patienten mit schwerer Hämophilie, die in Deutschland an
wenigen spezialisierten Zentren behandelt werden, erhalten zur Vorbeugung
von Blutungen regelmäßig Infusionen der fehlenden Gerinnungsfaktoren. Auch
im Falle einer Verletzung können zusätzliche Faktorgaben die Blutungen
stoppen.

Trotz dieser Fortschritte ist die Lebensqualität noch nicht optimal. „Die
Medikamente können nicht immer verhindern, dass es doch zu inneren
Blutungen kommt“, erläutert Eichler. Geschieht das über Jahre hinweg, kann
das vor allem die großen Gelenke schädigen, wenn dort gehäuft Blutungen
auftreten. „Die Patienten leiden dann unter chronischen Schmerzen und
zunehmender Gelenkzerstörung, was bei einigen schon im frühen
Erwachsenenalter den Einbau von Kunstgelenken erforderlich macht“, so der
Experte. Hinzu kämen die regelmäßigen Infusionen, die mehrmals in der
Woche notwendig sind und die Lebensqualität der Patienten sehr
beeinträchtigen.

Viele dieser Probleme könnten vermieden werden, wenn der Körper selbst in
die Lage versetzt würde, den fehlenden Gerinnungsfaktor zu produzieren.
Seit mehr als 20 Jahren forschen Wissenschaftler deshalb an einer
Gentherapie zur Behandlung von Hämophilie. Ihr Ziel ist es, eine intakte
Kopie des defekten Gens in die Leberzellen zu transportieren, damit diese
die Gerinnungsfaktoren VIII oder IX herstellen. Der Transport ist
inzwischen mithilfe sogenannter „Genfähren“ effektiv möglich, die aus
Adeno-assoziierten Viren (AVV) entwickelt werden. Durch gentechnische
Veränderungen sind diese Genfähren keine vermehrungsfähigen Viren mehr und
deshalb für den Menschen völlig ungefährlich. Diese AVV-basierten Fähren
binden sich gezielt an Leberzellen und können ihre „Fracht“, nämlich die
intakten menschlichen Gene für Faktor VIII und IX, in den Zellen abladen.
Diese gesunden Gene dienen dann als Bauplan für die Bildung der
funktionell intakten Gerinnungsfaktoren, die in das Blut ausgeschleust
werden und dort die Blutgerinnung normalisieren.

Chinesische Forscher haben bereits 1996 eine Gentherapie an zwei Menschen
mit Hämophilie B vorgenommen. „Die Leberzellen produzierten jedoch nur für
kurze Zeit Gerinnungsfaktoren, deren Menge nicht ausreichte, um die
Betroffenen vor Blutungen zu schützen“, erläutert Eichler. Inzwischen
haben mehrere Firmen in den USA und in Europa Gentherapien entwickelt, die
über mehrere Jahre und vielleicht sogar lebenslang die Produktion von
Gerinnungsfaktoren in einer Menge ermöglichen, die spontane Blutungen in
Gelenke oder Organe verhindern könnten.

Für die Hämophilie B liegen mittlerweile mit verschiedenen Gentherapien
Erfahrungen zu über 50 Patienten vor, bei denen Faktor VIII-
Konzentrationen von bis zu 45 Prozent der Normalwerte von Gesunden
erreicht wurden. „Bei einigen Patienten produzierten die Leberzellen den
Gerinnungsfaktor noch acht Jahre nach der Gentherapie“, so der Experte.
Bei der Hämophilie A laufen ebenfalls bereits klinische Studien, die in
den nächsten Jahren zur Zulassung der Gentherapie führen könnten. Ein
erster Zulassungsantrag wurde bereits bei der US-amerikanischen
Arzneimittelbehörde FDA (U. S. Food and Drug Administration) eingereicht.

Die Sorge, dass die Gentherapie die Leber schädigen könnte, hat sich laut
dem DGTI-Experten bislang nicht bestätigt. Es komme zwar bei einigen
Patienten anfangs zu einem zumeist nur vorübergehenden und leichten
Anstieg der Leberenzyme, was auf eine geringgradige Zellschädigung
hinweist. Bei den meisten Patienten würde sich die Leber jedoch
vollständig erholen, sodass die Sicherheitsbedenken weitgehend ausgeräumt
werden konnten. Ob und wann die erste Gentherapie zugelassen wird, lässt
sich nach Einschätzung von Eichler nicht genau vorhersagen. Wie die
meisten Experten ist er jedoch optimistisch, dass dies bereits in einigen
Monaten der Fall sein wird. Für die Patienten könnte es einen enormen
Gewinn an Lebensqualität bedeuten, wenn sie nicht mehr auf die
regelmäßigen Infusionen angewiesen und ihre Gelenke nicht mehr von
Blutungen bedroht wären.