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Suchtforscher Prof. Dr. Heino Stöver von der Frankfurt UAS  Frankfurt UAS
Suchtforscher Prof. Dr. Heino Stöver von der Frankfurt UAS Frankfurt UAS

Suchtforscher Prof. Dr. Heino Stöver sieht die Behandlung
schlechtsituierter Kranker in Gefahr
„Mehr als vier Jahre nach Inkrafttreten des Cannabis-als-Medizin-Gesetzes
fällt meine Bilanz gemischt aus. Neben den unstrittigen, zahlreichen
positiven Entwicklungen sind verschiedene, vom Gesetzgeber 2017
beabsichtigte, Veränderungen nach wie vor nicht eingetreten“, erklärt
Prof. Dr. Heino Stöver, Geschäftsführender Direktor des Instituts für
Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences
(Frankfurt UAS). Seit 2017 wurden laut Krankenkassendaten fast 70.000
Kostenübernahmeanträge gestellt, von denen aber nur rund 60 Prozent
genehmigt wurden. Nach Marktschätzungen erhalten in Deutschland derzeit
mehr als 80.000 Menschen (Privatversicherte und Selbstzahler) eine
ärztlich verordnete Cannabis-basierte Therapie. Für Stöver steht fest,
dass die Potenziale in Deutschland nicht ausreichend genutzt werden.
Gerade Menschen aus ärmeren Verhältnissen, die auf eine Kostenübernahme
der Krankenkassen angewiesen sind, bliebe diese Behandlungsmethode oft
verwehrt. Deshalb ist Stöver einer der Initiatoren und Unterzeichner des
Positionspapiers „Cannabis als Medizin: Warum weitere Verbesserungen
notwendig und möglich sind“. Das Papier wurde von Wissenschaftler/-innen,
Ärztinnen und Ärzten entwickelt und wird von Politiker/-innen
verschiedener Parteien unterstützt.

Problembereiche
Noch immer müssen Cannabismedikamente nach Deutschland importiert werden.
Die Kosten für Cannabisblüten sind seit 2017 deutlich angestiegen. Sie
liegen hierzulande deutlich über denen in zahlreichen anderen Ländern. So
kosten die gleichen Produkte in Deutschland mehr als dreimal so viel wie
in den Niederlanden. „Dies führt zu einer erheblichen finanziellen
Belastung nicht nur der Krankenkassen, sondern auch derjenigen, die die
Kosten der Behandlung selbst tragen“, so Stöver. Verordnende Ärztinnen und
Ärzte sehen sich nicht nur einem hohen bürokratischen Aufwand gegenüber,
sondern fühlen sich im Falle von hohem Bedarf ständig der Gefahr eines
Regresses ausgesetzt. Zudem weisen Krankenkassen Ärztinnen und Ärzte
regelmäßig in Schreiben auf das in §12 Sozialgesetzbuch V festgeschriebene
Wirtschaftlichkeitsgebot hin. „Augenfällig ist, dass so stets die
Unwirtschaftlichkeit einer Verordnung von Cannabisblüten suggeriert wird,
sodass nach wie vor die Mehrzahl der Vertragsärzte vor einer Verordnung
zurückschrecken.“ Auch fühlen sich viele Ärztinnen und Ärzte nicht
ausreichend qualifiziert, um eine solche Therapie durchzuführen. „Der
Bedarf an Fortbildungen ist ungebrochen. Diese sollten idealerweise
unabhängig von der Pharmaindustrie sein. Auch haben Grundlagen zur
Wirkungsweise Cannabis-basierter Medikamente kaum Eingang in die
Lehrinhalte an deutschen medizinischen Fakultäten gefunden“, bedauert
Stöver. „Eine Ablehnung von rund 40 Prozent aller Anträge kann sicherlich
nicht länger mit fehlerhaft gestellt begründet werden. Vielmehr verfestigt
sich der Eindruck, dass die Krankenkassen – und nicht wie sonst üblich und
für richtig befunden die behandelnden Ärztinnen und Ärzte – die Indikation
für eine Therapie stellen.“ So werden Kostenübernahmeanträge
beispielsweise bei psychischen Erkrankungen praktisch ausnahmslos
abgelehnt. Sogar Anträge von Patientinnen und Patienten, die zuvor bereits
eine Ausnahmeerlaubnis durch die Bundesopiumstelle erhalten hatten, wurden
in großer Zahl abgelehnt. Wissenschaftler/-innen wie auch Ärzteschaft und
Politiker/-innen seien sich einig, dass die externe Evidenz für eine
Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente in der Mehrzahl der
diskutierten Indikationen nach wie vor gering ist. Einigkeit besteht auch
darin, dass diesem Mangel ausschließlich mit Hilfe von großen
kontrollierten klinischen Studien Abhilfe geschaffen werden kann. „Umso
erstaunlicher ist es, dass bis heute fast gar keine staatlich finanzierte
Forschungsförderung erfolgte“, so Stöver.

Konsequenzen
All dies führe dazu, dass in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen
Ländern sowohl die absolute Zahl derjenigen, die legalen Zugang zu
Cannabis-basierten Medikamenten haben, gering ist, als auch die
Entwicklung langsamer verlaufe. Darüber hinaus ist eine erhebliche soziale
Schieflage eingetreten: Wegen der häufigen Ablehnung der Kostenübernahme
sind weniger vermögende Patientinnen und Patienten eindeutig
benachteiligt, da sie sich eine privatärztliche Verordnung nicht leisten
können. „Nach wie vor haben zahlreiche Patientinnen und Patienten keinen
legalen Zugang zu einer Behandlung, selbst wenn hierfür ärztlicherseits
eine Indikation gestellt wurde. Mehr noch: sie werden auch heute noch
kriminalisiert, wenn sie die einzige, ihnen offenstehende Alternative
einer Selbsttherapie mit Straßencannabis wählen. Diese Praxis kann nicht
im Sinne des Gesetzgebers sein, denn das Betäubungsmittelgesetz wurde
geschaffen, um Menschen vor gesundheitlichen Schäden zu schützen, nicht
umgekehrt“, betont Stöver.

Deshalb wurden in dem Papier den Problemen acht Lösungsvorschläge
entgegengesetzt:
1. Die Abgabepreise für Cannabisblüten in Apotheken müssen deutlich
gesenkt werden. 2. Der Genehmigungsvorbehalt der Krankenkassen muss
abgeschafft werden, damit die Therapiehoheit in den Händen der
behandelnden Ärztinnen und Ärzte bleibt. 3. Regressdrohungen gegenüber
Ärztinnen und Ärzten müssen beendet werden. 4. Pharmaindustrieunabhängige
Fortbildungen für Ärztinnen und Ärzte zum Thema Cannabis als Medizin
müssen verstärkt angeboten werden. Das Thema muss darüber hinaus
Bestandteil im Medizinstudium werden. 5. Sucht- und andere psychiatrische
Erkrankungen dürfen nicht länger pauschal als Kontraindikationen für eine
Cannabis-basierte Therapie eingestuft werden. 6. Patientinnen und
Patienten mit einer ärztlich bescheinigten Indikation für eine Cannabis-
basierte Therapie dürfen nicht länger strafrechtlich verfolgt werden. 7.
Bei Bestehen einer ärztlich indizierten Cannabis-basierten Therapie müssen
Patientinnen und Patienten bei der Teilnahme am Straßenverkehr genauso
behandelt werden, wie jene, die andere Medikamente einnehmen. 8. Die
klinische Forschung zur Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente muss
durch den Bund gefördert werden.

Gerne steht Prof. Dr. Stöver für Interviews, Fragen und weitere Statements
rund um die sozialwissenschaftlichen Aspekte des Themas Cannabis als
Medizin zur Verfügung.

Zur Person:
Prof. Dr. Heino Stöver ist Dipl.-Sozialwissenschaftler und Professor für
sozialwissenschaftliche Suchtforschung am Fachbereich Soziale Arbeit und
Gesundheit der Frankfurt UAS. Er leitet seit mehr als 20 Jahren das
Institut für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF). Sein
Tätigkeitsschwerpunkt ist die sozialwissenschaftliche Suchtforschung. Am
Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS leitet er den
Master-Studiengang Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe.
Gemeinsam mit Maximilian Plenert, der selbst ADHS- und Cannabispatient ist
und sich die Medikation auf dem Rechtsweg erstritten hat, hat Stöver
„Cannabis als Medizin Praxisratgeber für Patienten, Ärzte und Angehörige“
verfasst. Der Ratgeber stellte die erste umfassende Publikation zu dieser
Thematik im deutschsprachigen Raum dar und gibt Antworten auf rechtliche
wie medizinische Fragen. [Plenert, Maximilian; Stöver, Heino: Cannabis als
Medizin Praxisratgeber für Patienten, Ärzte und Angehörige,
Fachhochschulverlag Frankfurt am Main 2019, ISBN: 978-3-943787-90-0]

Das Positionspapier kann hier eingesehen werden: <https://www.frankfurt-
university.de/fileadmin/standard
/Positionspapier_zu_Cannabis_als_Medizin_finale_Fassung-1_30.04.2021.pdf
>;
mehr zum Institut für Suchtforschung unter <www.frankfurt-
university.de/isff>.