Medizin von Morgen: Mit Geroscience Alterskrankheiten vorbeugen
Bis zum Jahr 2050 werden sich die öffentlichen Ausgaben für vulnerable,
ältere Menschen in Deutschland voraussichtlich mehr als verdoppeln. Bis
dahin wird hierzulande jeder vierte Mensch 65 Jahre und älter sein.
„Unsere aktuelle medizinische Versorgung hat zwar nachweislich die
Lebenserwartung verlängert, nicht aber die Jahre, die in guter Gesundheit
und vollständig intakten Körperfunktionen verbracht werden. Daher brauchen
wir jetzt neue Präventionskonzepte, bei denen der Schutz vor
Gebrechlichkeit und die Erhaltung der körperlichen Funktion im Vordergrund
stehen“, sagt Professorin Heike A. Bischoff-Ferrari, Klinikdirektorin der
Universitären Klinik für Altersmedizin am Universitätsspital Zürich und
Stadtspital Zürich. Sie arbeitet an neuen Präventionsmöglichkeiten, die am
biologischen Alterungsprozess ansetzen. Über den aktuellen Stand ihrer
Forschung im Bereich der Geroscience berichtet sie im Rahmen des
Gerontologie- und Geriatrie-Kongresses, der vom 12. bis 15. September in
Frankfurt am Main stattfindet.
Das öffentliche Gesundheitswesen und die Medizin stehen vor der
Herausforderung, dass die Zahl der älteren Menschen mit Bedarf an
wirksamer Prävention gegen Vulnerabilität, Funktionsverlust und
Mehrfacherkrankungen rapide zunimmt. Bis zum Jahr 2050 wird sich die
Weltbevölkerung älterer Erwachsener voraussichtlich verdoppeln. Am
stärksten wird dies in Europa und den USA der Fall sein. „Die Medizin von
heute konzentriert sich auf die Behandlung manifester Krankheiten – die
Präventionsbemühungen beschränken sich weitgehend auf
Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen gegen bestimmte Krankheiten. Ich
glaube aber, dass sich zukünftig das Modell der sogenannten Gerosience zu
einem globalen Schwerpunkt in der medizinischen Wissenschaft entwickeln
wird“, sagt Bischoff-Ferrari. „Ich sehe hier einen großen Bedarf und
glaube, dass dies in einer alternden Gesellschaft von größter Bedeutung
ist.“
Das Modell Geroscience: Alterungsprozesse messen und manipulieren
Geroscience basiert auf der Erkenntnis, dass der klassische medizinische
Ansatz, eine Krankheit nach der anderen zu behandeln, in einer alternden
Gesellschaft nicht mehr tragfähig ist. Alternativ hat Geroscience zum
Ziel, den Alterungsprozess genau zu messen und zu manipulieren, um damit
gleichzeitig mehrere Erkrankungen und das Risiko der Vulnerabilität zu
senken. „Im Rahmen meiner Keynote werde ich über die Identifizierung der
Hauptmerkmale des Alterns auf molekularer und zellulärer Ebene sprechen.
Damit verbunden zeige ich realistische Wege zur Prävention auf, die am
biologischen Alterungsprozess ansetzt“, sagt Bischoff-Ferrari. „Unsere
Aufgabe ist nun, die neu entstehenden Möglichkeiten weiter
voranzubringen.“
Neue Präventionsstrategien: Untersucht an mehr als 2.000 Erwachsenen
Heike A. Bischoff-Ferrari beschäftigt sich im Rahmen der vom siebten EU-
Forschungsrahmenprogramm geförderten DO-HEALTH-Studie mit
unterschiedlichen Präventionsstrategien. Es ist die größte Studie zu
gesundem Altern und Langlebigkeit in Europa. In den vergangenen zehn
Jahren wurden insgesamt 2.157 gesunde Erwachsene im Alter von 70 Jahren
und älter in die Untersuchung aufgenommen. Sie stammen aus der Schweiz,
Deutschland, Frankreich, Österreich und aus Portugal. An ihnen wurden drei
Präventionsstrategien getestet, die aufgrund ihres potenziellen Nutzens
für mehrere Organfunktionen und Gesundheitsergebnisse ausgewählt wurden:
die Versorgung mit Omega-3 und Vitamin D in Kombination mit regelmäßigen
Trainings. Einzigartig an der DO-HEALTH-Studie ist die umfassende
Phänotypisierung aller Teilnehmer, einschließlich zentraler
Lebensstilfaktoren wie Ernährung und körperliche Aktivität. Erhoben wurden
auch prospektiv Daten zur Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und
zur Lebensqualität. „Die bisherigen Ergebnisse und Ausblicke bezogen auf
die Geroscience-Aspekte dieser Studie werde ich in meinem Vortrag beim
Gerontologie- und Geriatrie-Kongress ebenfalls vorstellen“, so Bischoff-
Ferrari. „In der Altersmedizin müssen wir das Thema Prävention neu und
umfassend aufnehmen – es sollte das zentrale Ziel einer älter werdenden
Gesellschaft sein.“
Neue Ansätze für die Praxis: Erfolg binnen weniger Monate messbar
Bischoff-Ferrari lädt Medizinerinnen und Mediziner dazu ein, sich
zukünftig verstärkt mit den Methoden neuer Präventionsmöglichkeiten
vertraut zu machen. „Die Geroscience stärkt unter anderem die Relevanz
verschiedener Lebensstilfaktoren als Hebel für eine wirksame Prävention.
Zu diesen Faktoren gehören neben der Ernährung und physischer Aktivität
beispielsweise auch Schlaf, mentale Gesundheit sowie soziale Interaktion.
Die Medizinerin sieht Geroscience als Medizin von Morgen – mit dem Ziel,
direkt den Alterungsprozess zu behandeln und damit Funktionsverluste und
altersbedingte Erkrankungen frühzeitig vorzubeugen, bevor irreversible
strukturelle Veränderungen vorhanden sind. „Durch die Messung von
Alterungsmerkmalen, den sogenannten Hallmarks of Aging, stehen zudem neue
Biomarker zur Verfügung, die mittlerweile binnen weniger Monate den Erfolg
präventiver Konzepte messbar machen. Früher vergingen dazu Jahre“, so
Bischoff-Ferrari. Damit ließen sich neue Konzepte schnell in die Praxis
bringen, um älteren Erwachsenen zu helfen, länger gesund und aktiv zu
bleiben. „Spannend ist zudem, dass die gleichen präventiven Maßnahmen zum
Verlangsamen des Alterungsprozesses auch Demenz, Krebsrisiko und Stürze
vorbeugen. Es ist also lohnenswert, frühzeitig verschiedene gesunde
Lebensstilfaktoren zu kombinieren.“
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Zur Person:
Die Schweizer Professorin Heike A. Bischoff-Ferrari ist Klinikdirektorin
der Universitären Klinik für Altersmedizin am Universitätsspital Zürich
und Stadtspital Zürich. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geriatrie und
Altersforschung an der Universität Zürich. Darüber hinaus ist Bischoff-
Ferrari Gastprofessorin für Geroscience im Rahmen des INSPIRE-Programms am
Universitätsspital Toulouse in Frankreich. INSPIRE ist eine translationale
Geroscience-Forschungsplattfor
Termin:
Prof. Dr. Heike A. Bischoff-Ferrari, DrPH
Keynote Lecture: Geroscience für die Prävention von Vulnerabilität
Gerontologie- und Geriatrie-Kongress
Hörsaal 5, Westend-Campus, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Mittwoch, 14. September 2022
14.45 bis 15.30 Uhr