Drohen Rückschritte in der Diabetesversorgung? DDG und DGE warnen davor, den Zugang zu CGM-Systemen zu erschweren
Obwohl häufig von Diabetespatient*innen genutzt, stellt die Barmer
Krankenkasse den Zusatznutzen von kontinuierliche Glukosemessgeräte (CGM)
in Frage und fordert künftig einen Nutzencheck, um für Krankenkassen
explodierende Kosten einzudämmen.(1) DDG und DGE begrüßen zwar generell
eine Überprüfung aller therapeutischen Hilfsmittel auf ihren medizinischen
Nutzen, warnen aber davor, aus finanziellen Gründen und mithilfe
vorschneller und wissenschaftlich nicht haltbarer Beurteilungen der CGM
Patientenwohl zu gefährden und eine Kultur des Misstrauens in neue
technische Hilfsmittel zu befördern.
2016 entschied der G-BA, dass kontinuierliche Glukosemesssysteme von den
gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, wenn die Therapieziele nicht
anders erreichbar sind. Mithilfe von CGM-Systemen können Ärztinnen und
Ärzte, Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen den
Glukoseverlauf jederzeit nachvollziehen und Trends für Unter- und
Überzuckerungen frühzeitig einschätzen. Die Mehrheit der Kinder und
Jugendlichen, deren Stoffwechsel naturgemäß starken Schwankungen
ausgesetzt ist, verwendet inzwischen solche Hilfsmittel. „Auf diese
Vorteile zu verzichten hieße, ins vergangene Jahrhundert zurückzufallen“,
kommentiert DDG Präsident Professor Dr. med. Andreas Neu den aktuellen
Hilfsmittelreport der Barmer. Ein Rückzug aus der Erstattungsfähigkeit
solcher Systeme würge die Entwicklung hin zu modernen, sicheren und
zukunftsfähigen Technologien ab, die Diabetespatientinnen und -patienten
den Alltag erleichtere und zu mehr Lebensqualität führe.
Ein wesentlicher Vorteil der CGM ist der Hypoglykämie-Alarm. „Fallen oder
übersteigen die Glukosewerte einen kritischen Punkt, löst dies einen Alarm
aus“, erklärt Dr. med. Guido Freckmann, Vorstandsmitglied der AG „Diabetes
und Technologie“ der DDG. „Die Patienten werden dann frühzeitig gewarnt
und können therapeutisch gegenlenken. Gerade bei Betroffenen mit stark
schwankenden Glukosewerten kann diese Funktion sogar lebensrettend sein.“
In ihrer aktuellen Stellungnahme „Auswahl der Glukosemessmethode“ weist
die AGDT der DDG auf die hohe Evidenz des Zusatznutzens bei einem Diabetes
Typ 1 und bei Insulinpumpentherapie hin und verweist dabei auf etliche
Studien. (2)
Expertinnen und Experten der DDG und DGE fürchten, dass mit der
Infragestellung des Zusatznutzens von CGM künftig weniger Patientinnen und
Patienten von der neuen Technik profitieren könnten. „Unsere
Untersuchungen und Erfahrungen mit Betroffenen zeigen, dass CGM neben der
verbesserten Glukosekontrolle auch das Risiko für Folgeerkrankungen und
akute Komplikationen vermindern", betont DGE-Präsident Professor Dr. med.
Günter Stalla. „Aus diesem Grunde hielten diese Systeme Einzug in die
Leitlinien zur Behandlung des Diabetes Typ 1 und Typ 2 – insbesondere für
Risikopatientinnen und -patienten, die ihren Stoffwechsel durch die
herkömmliche Standard-Therapie nicht in den Griff bekommen.“
Der Barmer-Hilfsmittelreport werfe zudem ein falsches Licht auf die
Versorgungsrealität und die tatsächlichen Kassen-Ausgaben, ergänzt DDG
Mediensprecher Professor Dr. med. Baptist Gallwitz: „Die Kosten für ein
CGM werden nur im Einzelfall übernommen. Der Medizinische Dienst der
Krankenversicherung prüft die Notwendigkeit und stimmt zu oder lehnt ab –
also eine bislang durchaus strenge Auswahl“, betont Gallwitz. Des Weiteren
sei der Kostenvergleich der Barmer zwischen Blutzuckermessstreifen und CGM
zulasten Letzterem fragwürdig: „Die Kosten für ein CGM-System liegen nicht
viel höher, als wenn man sechs bis acht Mal am Tag den Blutzucker mithilfe
herkömmlicher Blutzuckermessstreifen misst – was für eine gute
Stoffwechselkontrolle absolut notwendig ist“, sagt Gallwitz. Auch die
Beobachtung, dass CGM-Patienten häufiger Arzt- und Krankenhausaufenthalte
aufweisen, hält er für irreführend. Viele Patientinnen und Patienten mit
CGM hätten aufgrund der schwierigeren Stoffwechsellage auch häufiger
Begleit- oder Nebenerkrankungen, die solche Besuche rechtfertigen. Da sei
das CGM zweitrangig, so Gallwitz.
„Neben den harten Zahlen müssen wir bei der Nutzenbewertung auch die
menschlichen Aspekte berücksichtigten, die besonders wichtig sind“, gibt
Professor Dr. med. Martin Merkel zu bedenken, Vorstandmitglied der Sektion
Diabetes & Stoffwechsel der DGE. „Die Belastungssituation von Angehörigen
und Betroffenen sinkt deutlich, wenn sich der Stoffwechsel besser
kontrollieren lässt – unter Umständen auch aus größerer Distanz über eine
Handy-App.“ Zudem erhöhen technische Annehmlichkeiten die Therapietreue
und die gesellschaftliche Inklusion, wodurch Betroffene einen positiveren
Zugang zu ihrer Erkrankung bekommen. „Solche psychosozialen Faktoren
werden beim bloßen Blick auf Zahlen nicht berücksichtig“, kritisiert
Merkel.
Literatur:
(1) Barmer-Hilfsmittelreport 2022: <https://www.barmer.de/presse/
/studien-und-reporte/heil-und-
hilfsmittelreport/hilfsmittelr
(2) Stellungnahme der AGDT der DDG zum Thema: <Auswahl der
Glukosemessmethode“ <https://www.ddg.info/politik/
der-glukosemessmethode>