Zertifizierte Phagen-Forschung in Braunschweig
Das Leibniz-Institut DSMZ erhält als erstes Institut in Deutschland das
GMP-Zertifikat nach Arzneimittelgesetz für die DNA-Sequenzierung zur
Erforschung therapeutischer Phagen
Erstmalig erhielt mit dem Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von
Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH ein wissenschaftliches Institut in
Deutschland die GMP-Zertifizierung zur Identitätsprüfung von Phagen-
Prüfpräparaten zur Anwendung am Menschen gemäß § 64 Absatz 3f
Arzneimittelgesetz. Das Leibniz-Institut DSMZ kann somit die DNA-
Sequenzierung zur Identifizierung von Phagen in Projekten, die an einem
therapeutischen Einsatz von Phagen forschen, durchführen. Als zuständige
Überwachungsbehörde bestätigte das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt
Braunschweig die GMP-Zertifizierung am zweiten August 2022. Die Behörde
für Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutz zertifiziert, dass das
Leibniz-Institut DSMZ die Anforderungen der „Guten Herstellungspraxis“
(Good Manufacturing Practice = GMP) für die DNA-Sequenzierung zur
Identitätsprüfung in Phagenprojekten erfüllt. Damit gehört das Leibniz-
Institut DSMZ zu den wenigen Einrichtungen weltweit, die dazu befähigt und
anerkannt sind. Die DNA-Sequenzierung zur Identifizierung von Phagen ist
die Grundlage der weiterführenden Forschung und kann jederzeit als
Identitätskontrolle einer Phagenpräparation dienen.
Innerhalb von zwei Monaten ist es der Arbeitsgruppe „DNA und
Sequenzierung“ der DSMZ-Abteilung „Bioinformatik & Datenbanken“ gelungen,
die Inspektion des Gewerbeaufsichtsamts im Rahmen der
Arzneimittelüberwachung vorzubereiten und im Anschluss erfolgreich zu
absolvieren. Das Zertifikat bestätigt, dass die DSMZ für die Sequenzierung
zur Identitätsprüfung von Phagen nach den GMP-Richtlinien arbeitet und von
Arzneimittelherstellern beauftragt werden kann. Der Bedarf zur GMP-
Zertifizierung entstand aus den zwei Forschungsprojekten „PhagoFlow“ und
„Phage4Cure“ der von Dr. Christine Rohde geleiteten Arbeitsgruppe
„Klinische Phagen und gesetzliche Regulation“, der DSMZ-Abteilung
„Bioressourcen für Bioökonomie und Gesundheitsforschung“ unter der Leitung
von Prof. Dr. Yvonne Mast. „Das GMP-Zertifikat kann auch über den Einsatz
in den beiden Projekten hinaus verwendet werden und zeichnet die DSMZ als
bisher einziges Institut in Deutschland aus, das diese Dienstleistung für
Bakteriophagen unter GMP-Bedingungen anbietet.“, erläutert die DSMZ-
Justiziarin Dr. Hilke Püschner. In den wissenschaftlichen Projekten mit
dem Ziel, Phagen als zugelassenes Arzneimittel zu etablieren, entstand der
Bedarf einer GMP-konformen Sequenzierung zur Charakterisierung und
Freigabe von therapeutischen Phagen. Gemeinsam mit dem Fraunhofer ITEM in
Braunschweig, das im Rahmen der beiden oben genannten Forschungsprojekte
therapeutische Phagen herstellt, wurde nach Erkennen des dringenden
Bedarfs an der Erstellung einer geeigneten Standardarbeitsanweisung, der
Vorbereitung der Infrastruktur in den Laboren und Analytikräumen sowie
einem nachvollziehbaren Proben- und Verbrauchsmaterialmanagement
gearbeitet.
Die durch Drittmittel geförderte und institutionell stark fokussierte
Phagenforschung an der DSMZ begann ab 2005/2006. Heute gehört zur weltweit
vielfältigsten Bioressourcensammlung der DSMZ auch die DSMZ-Phagenbank mit
mehr als 1.000 Phagen. Aus Anlass der GMP-Zertifizierung hat der Leiter
der Stabsstelle Presse und Kommunikation PhDr. Sven-David Müller ein
Interview zu Bakteriophagen, die wahrscheinlich die häufigste Daseinsform
auf der Erde sind, mit Dr. Christine Rohde und Dr. Johannes Wittmann
(Leiter der Arbeitsgruppe „Phagengenomik – und Anwendung“ an der DSMZ)
geführt.
Was sind Bakteriophagen?
Bakteriophagen oder kurz „Phagen“ sind Viren, die nur Bakterien erkennen
und mit ihnen interagieren können, sodass sie im nächsten Schritt in die
Bakterienzellen eindringen und sich darin vermehren können, um dann die
Bakterien schlussendlich zu lysieren. Da Phagen spezifisch nur innerhalb
jeweils einer Bakterienart ihre Zielzellen durch Rezeptoren erkennen
können und dies Voraussetzung für die nachfolgenden Schritte des lytischen
Zyklus ist, gibt es in der Natur eine unendliche Zahl und Vielfalt von
Phagen. Gegen fast alle Bakterien, die man als „Selektions-Köder“ benutzt,
können Phagen aus natürlichen Standorten gefunden werden. Sie sind auch
die natürlichen Regulatoren der Bakterienmasse der gesamten Biosphäre und
gehören beispielsweise als Bestandteil des Viroms auch in unserem
Mikrobiom fest in unser Leben.
Wie könnten Bakteriophagen eingesetzt werden?
Überall da wo Bakterien unerwünscht sind, in der Human- und Tiermedizin,
in der Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung. Das letztgenannte
Anwendungsgebiet ist das einzige rein präventive, dagegen stellt die
Anwendung in der Medizin, aber auch in der Landwirtschaft, besonders der
Nutztierhaltung, eine Alternativoption zur Antibiotikaanwendung dar.
Aufgrund ihrer Wirtsspezifität können Phagen gezielt eingesetzt werden,
wenn die bakteriellen Ziele bekannt sind. Hinsichtlich der Form der
Anwendung gibt es im Prinzip keine Grenzen, solange die Phagen nicht durch
Hitze, Säure, Desinfektionsmittel oder Scherkräfte geschädigt werden.
Können Bakteriophagen bei antibiotikaresistenten Keimen effektiv wirken?
Ja, wenn die Phagen nachgewiesenermaßen zu den Keimen passen, diese also
effektiv lysieren können. Das muss vorher im Labor in verschiedenen
Experimenten beurteilt werden, auch wenn wir damit nicht die Phagenwirkung
im Patienten vorhersagen können. Ob ein Keim antibiotikaresistent oder
-sensitiv ist, ist nicht ausschlaggebend, sondern viele Aspekte der
Phagenbiologie müssen vor Phagenanwendung untersucht worden sein. Diese
Aspekte betreffen Sicherheit und Effizienz in der Anwendung, denn es gibt
bei Phagen auch einige unerwünschte Eigenschaften, die durch Analysen der
Phagengenome ausgeschlossen werden können und müssen.
Wie viele Bakteriophagen werden in der DSMZ-Phagensammlung beforscht und
gesammelt?
Zurzeit sind es etwas mehr als 1.000 Phagen, die Sammlung wächst besonders
durch die Forschungsprojekte. Beforscht werden aber nicht alle Phagen, der
Forschungsbedarf richtet sich meist nach den Fragestellungen der Projekte
oder nach spontanen Fragestellungen innerhalb der Arbeitsgruppe oder es
ergeben sich Aspekte durch externe Anfragen. Die Phagensammlung ist
jedenfalls mittlerweile so umfangreich, dass sie viel „Spielmasse“ bietet.
An welchen Bakteriophagen-Forschungsproje
Form beteiligt?
Wir sind in vier anwendungsbezogenen Forschungsprojekten der Humanmedizin
beteiligt und zwar in allen Fällen im Forschungs- und Entwicklungsbereich
des mikrobiologischen Labors und erforschen dabei die Phagenbiologie mit
allen uns möglichen Verfahren zur Charakterisierung der Phagen, inklusive
Sequenzierung und Analyse der Genome (unter anderem Identifizierung von
Antibiotikaresistenz-Genen, Virulenzfaktoren oder Lifestyle): Phage4Cure
ist eine klinische Studie und die Arbeiten des Gesamt-Konsortiums sind so
weit gediehen, dass das Vorhaben zu Beginn 2023 in die klinische Phase I
geht. Phagen werden an der Charité Research Organisation GmbH Berlin
inhalativ gegen Pseudomonas aeruginosa bei gesunden Probanden und
Patienten verabreicht. Im Projekt PhagoFlow wird die Praktikabilität der
individuellen Phagenanwendung an einzelnen Patienten am
Bundeswehrkrankenhaus Berlin getestet und soll die Voraussetzungen in
Deutschland aufzeigen. Ein DZIF-finanziertes klinisches Projekt, IDEAL-EC,
ist zunächst nach Plan in den Laboren der DSMZ abgeschlossen worden, dabei
wurde ein Phagencocktail gegen bestimmte pathogene E. coli entwickelt und
seine Effizienz erforscht, durchgeführt von der Dr. med. Annika Claßen vom
Universitätsklinikum Köln. Der Phagencocktail wird an weiteren klinischen
Standorten in präklinischen Versuchen auf seine Effizienz getestet. Ebenso
von DZIF finanziert ist das im Juli 2022 gestartete Projekt EVREA-Phage.
Hier soll ein Phagencocktail gegen Enterococcus faecium (Vancomycin-
resistente Stämme) entwickelt werden, der später insbesondere
immunsupprimierten hämatologischen Patienten zur Vermeidung von
Blutstrominfektionen verabreicht werden soll. Enterococcus faecium ist in
seinen multiresistenten Varianten in Deutschland stark sowie zunehmend
verbreitet und zählt zu den besorgniserregenden Bakterien der WHO-
Prioritätsliste. Ohne medizinische Zusammenhang ist die DSMZ Teil eines
Schwerpunktprogramms zur Erforschung verschiedener Aspekte von
Phagenbiologie (SPP2330 - „New concepts in prokaryotic virus-host
interaction“), unsere beiden Arbeitsgruppen unterstützen dort als
infrastrukturelles Z-Projekt die einzelnen Forschungsprojekte des Verbunds
mit etablierten Technologien und Bioressourcen. Zudem dient die DSMZ auch
als Hinterlegungsstelle der im SPP isolierten Bioressourcen und sorgt
damit zusammen mit dem Aufbau einer Virus-gewidmeten Datenbank für die
Nachhaltigkeit des SPPs.
Wie sehen Sie die Zukunft der Bakteriophagenforschung?
Die Phagenforschung hat mit Sicherheit sehr große Zukunft. Es werden aber
zunehmend Fragen hinzukommen, für die die Zeit aktuell insbesondere aus
regulatorischer Sicht noch nicht reif ist. Als Beispiel können
gentechnisch veränderte Therapiephagen genannt werden oder die
Systembiologie. Auch in der Zukunft werden nicht nur anwendungsbezogene
Themen wichtig sein, sondern auch Fragen der Grundlagenforschung, um die
Phage-Wirt- Wechselwirkung und das Zusammenspiel von Struktur, Funktion
und Regulation besser zu verstehen. Aufgrund der Komplexität und
Diversität der Phagen werden vermutlich die offenen Fragen nie versiegen.
Jedes unserer Forschungsprojekte verdeutlicht fast täglich diese
Komplexität und Diversität, aber: „Wer nicht phagt, der nicht gewinnt!“.
Unter welchen Voraussetzungen können Bakteriophagen bei Patienten
eingesetzt werden
und wann rechnen Sie damit?
Dies braucht eine definierte Infrastruktur, die zunächst auf einem gut
etablierten Forschungs- und Entwicklungs-Sektor mit einer umfangreichen
Phagenbank und Forschungsmöglichkeiten aufbaut. Im nächsten Schritt müssen
die Phagen, die als Therapiephagen in Frage kommen, durch fachkundige
Herstellungslabore aufgereinigt werden. Das Arzneimittelgesetz darf dabei
nicht umgangen werden, es beinhaltet zurzeit noch als Qualitätskriterium
bei Phagen die GMP-Herstellung jedes einzelnen Phagenpräparats in der
Humanmedizin. Da wir aber in der Expertengemeinschaft erkannt haben, dass
eine flexible Vielzahl von Phagen pro Bakterienart nötig ist, die
idealerweise als Bank bereits gereinigter Phagen für klinische Anwendung
bereitsteht, besteht an dem Punkt noch ein großes Problem, das nur
überwunden werden kann, wenn nicht zwingend GMP im gesamten
Aufreinigungsprozess nötig ist sondern ein Phagen-angepasstes
Qualitätsprüfsystem, das letztlich die individuellen magistralen
Phagenmischungen für einen Patienten zeitnah erlaubt.
Werden Bakteriophagen auch bei Tieren eingesetzt?
Neben der Anwendung in der Humanmedizin wurde natürlich auch das Interesse
am Einsatz von Phagen in der Veterinärmedizin und auch
Lebensmittelindustrie geweckt, um präventiv beispielsweise zoonotische
Pathogene zum Beispiel in Ställen oder bei der Lebensmittelverarbeitung zu
reduzieren. Aber auch der Einsatz von Phagen zur therapeutischen
Behandlung von akuten Infektionen bei Haus- und Nutztieren wird immer
interessanter. - ENDE Pressemitteilung -
Über das Leibniz-Institut DSMZ
Das Leibniz-Institut DSMZ – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und
Zellkulturen GmbH ist die weltweit vielfältigste Sammlung für biologische
Ressourcen (Bakterien, Archaea, Protisten, Hefen, Pilze, Bakteriophagen,
Pflanzenviren, genomische bakterielle DNA sowie menschliche und tierische
Zellkulturen). An der DSMZ werden Mikroorganismen sowie Zellkulturen
gesammelt, erforscht und archiviert. Als Einrichtung der Leibniz-
Gemeinschaft ist die DSMZ mit ihren umfangreichen wissenschaftlichen
Services und biologischen Ressourcen seit 1969 globaler Partner für
Forschung, Wissenschaft und Industrie. Die DSMZ ist als gemeinnützig
anerkannt, die erste registrierte Sammlung Europas (Verordnung (EU) Nr.
511/2014) und nach Qualitätsstandard ISO 9001:2015 zertifiziert. Als
Patenthinterlegungsstelle bietet sie die bundesweit einzige Möglichkeit,
biologisches Material nach den Anforderungen des Budapester Vertrags zu
hinterlegen. Neben dem wissenschaftlichen Service bildet die Forschung das
zweite Standbein der DSMZ. Das Institut mit Sitz auf dem Science Campus
Braunschweig-Süd beherbergt mehr als 80.000 Kulturen sowie Biomaterialien
und hat knapp 200 Beschäftigte. www.dsmz.de
Über die Leibniz-Gemeinschaft
Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 97 selbständige
Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-,
Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und
Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute
widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen.
Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den
übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten
wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte
Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im
Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und
informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-
Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen - in Form der
Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In-
und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen
Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern
Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die
Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.500 Personen, darunter 11.500
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute
liegt bei 2 Milliarden Euro. www.leibniz-gemeinschaft.de