Spenderorganmangel: Deutsche Herzgesellschaften und Herzstiftung befürworten erneute Diskussion zur Widerspruchslösung
Strukturelle Verbesserungen im Transplantationswesen für Organspende
zusätzlich zur Widerspruchslösung dringend notwendig
Der deutliche Rückgang der Zahl der Organspenden im Jahr 2022 zeigt: Beim
Spenderorganmangel ist in Deutschland kein Ende in Sicht. Alarmiert von
diesem negativen Trend mit dramatischen Auswirkungen für die betroffenen
schwer kranken Patientinnen und Patienten, darunter auch Kinder, sehen die
Deutsche Herzstiftung und Deutschlands herzmedizinische Fachgesellschaften
dringlichen Handlungsbedarf. Sie befürworten daher eine erneute Diskussion
über die Einführung der Widerspruchslösung, wie von
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zuletzt gefordert. Deutschlands
herzmedizinische Fachgesellschaften sind die Deutsche Gesellschaft für
Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG), die Deutsche Gesellschaft für
Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung (DGK) und die Deutsche
Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler
(DGPK).
Ein erster Anlauf pro Widerspruchslösung war im Januar 2020 gescheitert
und führte zur erweiterten Zustimmungslösung. Dazu gehörte ein Online-
Register zur Dokumentation der Organspendebereitschaft (aktuell auf 2024
verschoben). Seitdem hat sich die Organspendesituation nicht verbessert,
eher noch verschlechtert: Die enorme Kluft zwischen der Zahl schwer
kranker Menschen auf den Wartelisten für ein Spenderorgan und den
verfügbaren Organen für eine Transplantation ist noch größer geworden, wie
die aktuellen Organspendezahlen der Deutschen Stiftung
Organtransplantation (DSO) (1) zeigen. Dass sich die Situation verbessern
könnte, ist nicht abzusehen. Nach DSO-Angaben sind die Organspenden im
Jahr 2022 um 6,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Mit den 2.795
nach postmortaler Spende übertragenen Organen konnte zwar 2.695 schwer
kranken Patientinnen und Patienten eine bessere Lebensqualität oder sogar
ein Weiterleben ermöglicht werden, so die DSO. Allerdings warten 8.500
Menschen in Deutschland auf ein Spenderorgan. Auch die Zahl der
Spenderherzen bewegt sich weiterhin auf einem sehr niedrigen Niveau, sie
stieg nur wenig spürbar um 0,6 Prozent von 310 postmortal gespendeten
Herzen (2021) auf 312 im Jahr 2022 an. Nur mit Hilfe von weiteren 46
Spenderherzen aus dem Ausland – wohlgemerkt alles Länder mit
Widerspruchslösung – konnte die Zahl der transplantierten Herzen auf
insgesamt 358 Herzen erhöht werden.
Lage für Patientinnen und Patienten „hoch dramatisch“
„Die Lage ist hoch dramatisch“, warnt Herzchirurg Prof. Dr. Andreas
Böning, Präsident der DGTHG. Den 358 Herztransplantationen im Jahr 2022
stehen deutschlandweit mehr als 700 schwer herzkranke Menschen auf den
Wartelisten gegenüber, die dringend ein Spenderherz benötigen. „Wir sehen
daher besorgt auf den eklatanten, anhaltenden Organspendemangel“, erklärt
der Präsident der DGTHG, die bereits eigene Organspende-Kampagnen
initiiert hat. Die Widerspruchslösung wäre eine wichtige Maßnahme, um die
Zahl der Spenderorgane deutlich zu erhöhen und damit jenen Menschen zu
helfen, die dringlich auf ein Spenderherz warten, betont Böning.
Die Fachgesellschaften für Herzchirurgie (DGTHG), für Kardiologie (DGK)
und Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) sprechen
sich daher – auch als Verfasser des Positionspapiers zu einer Nationalen
Herz-Kreislauf-Strategie für eine bessere Versorgung von Patientinnen und
Patienten und innovative Forschung in Deutschland (NHKS) (2) – klar für
eine Widerspruchslösung aus. „Wir befürworten den Anlauf des
Bundesgesundheitsministers für eine erneute Abstimmung des Bundestags über
die Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland mit dem Ziel, die
Zahl der Spenderorgane zu erhöhen“, betont der Kardiologe Prof. Dr.
Stephan Baldus, Präsident der DGK. Die Deutsche Herzstiftung als
Patientenvertretung der Herz-Kreislauf-Medizin unterstützt sämtliche
Anstrengungen der kardiologischen und herzchirurgischen
Fachgesellschaften, die zu einer Verbesserung der Organspendezahlen in
Deutschland beitragen. „Nur mit ausreichend verfügbaren Spenderherzen
können wir Patientinnen und Patienten mit schwer geschädigtem Herzen eine
Perspektive geben“, sagt Prof. Dr. Thomas Voigtländer,
Vorstandsvorsitzender der Deutschen Herzstiftung. Dies gilt auch für die
21 zusätzlich auf der Warteliste befindlichen Kinder (Alter 0 bis 15
Jahre) für ein Spenderherz. 42 Herzen konnten bei Kindern im Jahr 2022
transplantiert werden. „Es braucht daher auch für Kinder, Jugendliche und
junge Erwachsene mit schweren Herzmuskelerkrankungen zwingend die
Widerspruchslösung“, fordert der Kinderkardiologe Prof. Dr. Matthias
Gorenflo, Präsident der DGPK. Die Widerspruchslösung gilt in 20
europäischen Ländern.
Das Widerspruchs-Prinzip besagt: Wer eine Organspende nicht ausdrücklich
verweigert, steht als Spender grundsätzlich zur Verfügung, wobei die
Angehörigen ein Veto einlegen können.
Die häufigsten Ursachen und Indikationen für eine Herztransplantation sind
schwerwiegende Herzmuskelerkrankungen (Kardiomyopathien), die koronare
Herzkrankheit (KHK), die Grundkrankheit des Herzinfarkts, und weitere
chronische Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems wie Herzmuskelentzündung
(Myokarditis). Hauptursachen für die Entwicklung einer schweren
Herzinsuffizienz sind im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter
(EMAH) ein Versagen des Herzmuskels im Endstadium (z. B. nach
Herzmuskelentzündung, Kardiomyopathien) und komplexe angeborene Herzfehler
im terminalen Herzkreislaufversagen. Für Patientinnen und Patienten mit
schwerer Herzschwäche (Herzinsuffizienz) im Endstadium ist die
Herztransplantation eines Spenderorgans Goldstandard.
Widerspruchslösung erfordert zugleich strukturelle Verbesserungen in der
Transplantationsmedizin
Damit sich die Organspendesituation in Deutschland verbessert, müssen mit
Unterstützung der Politik im Transplantationswesen auch die logistischen
Voraussetzungen für mehr Organverpflanzungen stimmen. „Die jetzige
Situation des Krankenhauswesens ist insbesondere von Ressourcenknappheit
auf den Intensivstationen geprägt. Die Transplantationsmedizin bindet
enorme intensivmedizinische Kapazitäten“, betont Prof. Voigtländer. Der
Kardiologe sieht politischen Handlungsbedarf besonders aufgrund der
fehlenden Intensivpflegekräfte sowohl für erwachsene Patienten als auch
auf den Kinderherz-Intensivstationen, wo auch eine dramatische
Unterbesetzung der Pflegedienste zu beklagen ist. Diese personellen
Engpässe besonders auf den Intensivstationen der Kliniken bestanden schon
vor der Pandemie. SARS-CoV-2 verstärkte die Belastung auf den
Intensivstationen mit Auswirkungen auch auf andere Klinikbereiche.
So zeigen auch die DSO-Zahlen, dass die Coronavirus-Pandemie und damit
verbundene hohe Krankenstände beim Klinikpersonal „wesentlich zum starken
Einbruch der Organspenden um 30 Prozent“ im ersten Quartal 2022
beigetragen haben. Zum anderen scheint die Realisierung von möglichen
Organspenden dadurch erschwert zu werden, dass es den koordinierenden
Stellen nicht immer gelingt, den Willen von Verstorbenen für oder gegen
eine Organspende frühzeitig zu klären. Ein Problem, das die DSO für den
Rückgang der Organspenden anführt: Es fehlt häufig an eindeutigen
Einwilligungen der Verstorbenen. In 42 Prozent der Fälle kam eine
Ablehnung etwa aufgrund des vermuteten Willens der Verstorbenen zustande.
35 Prozent der Ablehnungen hätten auf der Einschätzung der Angehörigen
nach deren eigenen Wertvorstellungen beruht, die nicht unbedingt denen des
Verstorbenen entsprachen. „Die Zahlen stehen sehr im Kontrast zu den hohen
Zustimmungswerten in der Bevölkerung für das Thema Organspende“, gibt DGK-
Präsident Baldus zu bedenken. Nach einer aktuellen Umfrage der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) befürworten über 80
Prozent der Bundesbürger eine Organspende (3).
Machen Koordinatoren-Teams in Spaniens Kliniken den Unterschied?
Ein Blick auf die Situation in Spanien, das bei Organspenden seit
Jahrzehnten weltweit an der Spitze steht, lässt darauf schließen, dass
nicht allein die Widerspruchslösung, sondern vor allem auch effiziente
Strukturen in der Organisation der Organspende hohe Organspendezahlen erst
ermöglichen. Eine wichtige Säule des spanischen Systems bilden die eigens
für den Transplantationsprozess geschaffenen „Koordinatoren“-Teams aus
Ärzten und Pflegern in den Intensivstationen, die in engem Kontakt zur
staatlichen Zentralbehörde für Transplantationen (ONT) stehen. Hier
spielen Abläufe zwischen Koordinatoren-Teams auf den Intensivstationen,
der zentralen Koordinierungsstelle und den Angehörigen der Patienten auf
den Intensivstationen der Kliniken eine wichtige Rolle. Im Unterschied zu
den spanischen Koordinatoren müssen Transplantationsbeauftragte in
Deutschland ihre Aufgabe oft zusätzlich zu ihrer vollberuflichen
ärztlichen Tätigkeit in der Klinik wahrnehmen mit viel bürokratischer
Zusatzlast. Das erschwert ein effizientes Vorgehen bei der Realisierung
einer Organspende. Nur durch die Kombination von verbesserten Abläufen im
Krankenhaus und der Einführung einer Widerspruchslösung kann dem
Organmangel effektiv begegnet werden.
Deutschland importiert Organe aus Ländern mit Widerspruchlösung
Dass im Jahr 2022 von den 358 in Deutschland transplantierten Herzen 46
Spenderherzen aus Ländern mit Widerspruchslösung importiert wurden, sehen
die Verfasser der NHKS kritisch. Als „nicht hinnehmbar und ethisch
problematisch“ bezeichnet DGTHG-Präsident Prof. Böning, dass in
Deutschland Spenderorgane aus Ländern des Eurotransplant-Verbunds mit
einer Widerspruchslösung wie Spanien, Belgien und Österreich akzeptiert
werden, während hierzulande eine solche Lösung nicht eingeführt wurde.
„Deutschland hat als einziges Mitgliedsland von Eurotransplant keine
Widerspruchslösung.“
Herztransplantation die bessere Option als Herzersatzverfahren
Erfreulicherweise leben ca. 60 Prozent der Patienten 10 Jahre und länger
nach einer Herztransplantation. Bis zu 30 Prozent leben auch nach 20
Jahren noch mit ihrem neuen Herzen. Dank stetig weiterentwickelter und
innovativer Medikamente, vor allem Immunsuppressiva, verbessert sich das
Langzeitüberleben der Herztransplantierten kontinuierlich. Für das
komplexe menschliche Herz gibt es aktuell keinen kompletten
Kunstherzersatz. Die sogenannten Kunstherzen (Total Artificial Hearts,
TAH) sind noch im Frühstadium ihres Einsatzes beim Menschen, daher sind
weder mittelfristige Erkenntnisse noch Langzeitergebnisse verfügbar. Auch
die Transplantation eines tierischen Herzens (Xenotransplantation) ist
zurzeit keine Alternative. Für Patienten auf der Warteliste für ein
Spenderherz gibt es zwar bis zur Erholung des Herzmuskels oder zur
Überbrückung bis zur Herztransplantation die Option eines
Herzunterstützungssystems für die rechte, linke oder beide Herzkammern
(RVAD, LVAD, BVAD). Die Lebenserwartung mit einem Spenderherz ist
allerdings deutlich höher als mit dem häufigsten Herzunterstützungssystem
LVAD. LVAD-Träger können zwar inzwischen auch recht gut mit ihrem
künstlichen Pumpsystem leben. „Allerdings kann Patienten, bei denen beide
Herzkammern geschädigt sind, nach wie vor nur eine Herztransplantation
helfen“, so DGTHG-Präsident Böning.
(wi)
Literatur:
(1) Pressemitteilung der DSO „Organspendezahlen im vergangenen Jahr
gesunken“:
https://dso.de/dso/presse/pres
(2) Nationale Herz-Kreislauf-Strategie für eine bessere Versorgung von
Patientinnen und Patienten und innovative Forschung in Deutschland (NHKS):
https://dgk.org/daten/national
(3) Befragung der BzgA zur Organ-/Gewebespende (2022):
https://www.organspende-info.d
https://www.organspende-
info.de/fileadmin/Organspende/
BZgA:
www.organspende-info.de
Ein Organspendeausweis der Deutschen Herzstiftung kann kostenfrei unter
www.herzstiftung.de/organspend
Weitere Infos zur Organspende sind abrufbar unter www.herzstiftung.de und
www.herzstiftung.de/podcasts