Nachwuchsförderung in der digitalen Gesundheitsforschung
Austausch über die Grenzen der Disziplinen hinweg, vielfältige
Möglichkeiten zur Vernetzung, Forschungsaufenthalte, Fortbildungen, auch
finanzielle Sicherheit – das alles und mehr ermöglicht die „Early Career
Research Academy“, kurz ECRA. Mit ihr fördert der „Leibniz-
WissenschaftsCampus Digital Public Health“ (LWC) gezielt
Nachwuchswissenschaftler:innen
Gesundheitsforschung befassen.
Sie ist Epidemiologin, er ist Philosoph, beide promovieren, beide
interessieren sich für die Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und
Gesundheit, beide leben in Bremen. Und doch ist es mehr als
wahrscheinlich, dass sich beide außerhalb der Early Career Research
Academy nie begegnet wären. Über die ECRA sagt Elida Sina: „Sie hilft mir,
meine Fähigkeiten als Wissenschaftlerin zu verbessern.“ Hans-Henrik Dassow
ergänzt: „Alleine wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, einzelne
Projekte zu verfolgen und sie auch zu publizieren.“
--- „Je stärker Kinder und Jugendliche soziale Medien nutzen, desto mehr
Zucker nehmen sie auf, desto häufiger konsumieren sie Fast Food.“ ---
Das Dissertationsthema von Elida Sina ist insbesondere für Eltern von
hoher Aktualität und Relevanz: Die 29-Jährige untersucht, welchen
langfristigen Einfluss TikTok, Instagram, YouTube und Co. auf die
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen haben, etwa durch die
Beeinflussung ihrer Ernährungsvorlieben und Geschmackspräferenzen, was bis
zum Metabolischen Syndrom führen kann – einem gefährlichen Quartett aus
Übergewicht, erhöhten Blutzucker-, Blutfett- und Blutdruckwerten.
Dass die übermäßige Nutzung von digitalen und sozialen Medien zu
derartigen Erkrankungen führen kann, glauben viele zu wissen.
Wissenschaftlich nachgewiesen ist es aber noch nicht. Die Arbeit von Elida
Sina, die am BIPS promoviert, dem Bremer Leibniz-Institut für
Präventionsforschung und Epidemiologie, ist die erste ihrer Art. Sie
forscht dabei auch über eine wichtige Komponente: der Bedeutung von
Werbung, die das Essverhalten von Kindern und Jugendlichen nachweislich
beeinflusst.
Während Reklame für Alkohol und Zigaretten in vielen sozialen Medien
reguliert ist, darf die Nahrungsmittelindustrie dort unbegrenzt für
ungesunde Lebensmittel werben: für Zuckerbomben in fester und flüssiger
Form, für fettige und salzige Snacks – und das oft mit zweifelhaften
Methoden, indem sie Influencer:innen einspannt. „Sie haben einen besonders
großen Einfluss auf die Jugendlichen“, hat Elida Sina beobachtet. Ihr
Befund ist eindeutig: „Je stärker Kinder und Jugendliche soziale Medien
nutzen, desto mehr Zucker nehmen sie auf, desto häufiger konsumieren sie
Fast Food.“ Und desto größer ist die Gefahr zu erkranken. Ihre
Schlussfolgerung: „Wir brauchen dringend eine stärkere Regulierung.“
Auch Hans-Henrik Dassow betritt mit seiner Forschung Neuland, nur dass sie
weniger konkret, sondern eher von grundsätzlicher Natur ist. „Mein Thema
sind die ethischen Implikationen von Gesundheitsapps“, erzählt der
31-Jährige. Einerseits können Bewegungs-, Ernährungs- und
Menstruationsapps zu einem gesünderen Lebensstil animieren. Andererseits
erzählen die Daten viel über ihre Nutzer:innen und könnten missbraucht
werden. „Die positiven Effekte digitaler Intervention können ab einem
bestimmten Punkt in ihr Gegenteil umschlagen“, meint der wissenschaftliche
Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Bremen.
Ihre Nutzung ist also ein Abwägungsprozess. Nur anhand welcher Kriterien
erfolgt er? Am Beispiel von sechs verschiedenen Gesundheitsapps will
Dassow zeigen, wie die Daten erhoben und verwendet wer-den, auch welche
Lücken bestehen. „Mein Ziel ist, ethische Richtlinien zu entwickeln und
bisherige Prinzipien der Medizinethik in das digitale Gesundheitsalter zu
übersetzen.
Die Digitalisierung prägt die Gesundheit des Einzelnen wie das öffentliche
Gesundheitswesen immer stärker. Wie aber kann sie zum Nutzen aller
eingesetzt werden? Zur Verbesserung der Vorsorge, zur Verhinderung von
Krankheiten, zur Verlängerung des Lebens? Wie kann die Wissenschaft die
Unmengen an Daten zum Wohle aller verarbeiten, neue Konzepte entwickeln
und den Zugang zu digitalen Entwicklungen sichern, unabhängig von
Bildungsgrad, Herkunft und sozialer Situation? Und wie lässt sich dabei
die Privatsphäre und die Datensicherheit wahren?
„Das waren einige unserer Ausgangsüberlegungen bei der Gründung des
Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health“, erzählt Dr. Hajo Zeeb,
Professor für Epidemiologie mit den Schwerpunkten Prävention und
Evaluation an der Universität Bremen, Sprecher des LWC und Leiter der
Abteilung Prävention und Evaluation am BIPS. Das Forschungsinstitut ist
eine von drei Mitgliedseinrichtungen der U Bremen Research Alliance, die
den LWC 2019 aus der Taufe gehoben haben. Das Trio wird durch die
Universität Bremen und das Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS
vervollständigt.
--- „Uns ist es wichtig, junge Wissenschaftler:innen zu unterstützen,
ihnen eine Entwicklungsperspektive zu geben.“ ---
„Durch den LWC sind neue Verbindungen unterein-ander entstanden, die die
Sichtbarkeit und Attraktivität der Gesundheitsforschung in Bremen nochmals
erhöht haben und in die jeder seine spezifischen Kenntnisse einbringt“,
sagt Zeeb. 3,6 Millionen Euro an Fördermitteln, verteilt über vier Jahre,
stehen zur Verfügung. Sie kommen zu je einem Drittel vom Land Bremen, von
der Leibniz-Gemeinschaft und vom BIPS selbst. Mit dem Geld werden
Forschungsprojekte (siehe Kasten: „Forschung am LWC“) ebenso finanziert
wie die ECRA, die ein wichtiger Bestandteil des LWC ist. „Uns ist es
wichtig, junge Wissenschaftler:innen zu unterstützen, ihnen eine
Entwicklungsperspektive zu geben“, sagt Zeeb. „Das hat sich mit ganz viel
Dynamik super entwickelt.“
Die ECRA ist kein fester Ort, sondern ein Netzwerk von Promovierenden und
Postdocs verschiedenster Fachrichtungen, die eigenverantwortlich mit einem
eigenen Budget Veranstaltungen, Workshops und Gastvorträge organisieren
sowie Konferenzen besuchen können. „Es gibt keine feste, vorgegebene
Struktur. Wir sind erwachsene Wissenschaftler:innen mit eigenen Ideen, die
wir versuchen, im Rahmen der ECRA umzusetzen“, beschreibt Dassow das
Prinzip. Dazu zählen auch ganz handfeste Themen, von denen alle
profitieren, wie Workshops zur Datenanalyse oder zum Schreiben von
Förderanträgen, eine überlebenswichtige Fähigkeit, gerade für junge
Wissenschaftler:innen. „Diese Angebote habe ich als sehr hilfreich
empfunden“, sagt Elida Sina.
Einmal im Monat tauscht sich die Gruppe per Zoom aus. Informatiker:innen,
Jurist:innen, Gesundheitswissenschafler:inne
darunter. Es ist diese Diversität der Zusammensetzung, die sie alle
besonders schätzen. „Interdisziplinäres Arbeiten ist nicht immer einfach“,
weiß Dassow. „Wir verfolgen unterschiedliche Methoden und haben
abweichende Vorstellungen von Wissenschaft. Der Austausch aber ist sehr
wertvoll, wir haben eine gemeinsame Sprache entwickelt. Durch das
interdis-ziplinäre Arbeiten verstehe ich sogar mein eigenes Vorhaben
besser.“
Und es entstehen gemeinsame Projekte. So hat Dassow gemeinsam mit einem
ECRA-Kollegen ein Papier zu „Dark Patterns“ veröffentlicht – manipulative
Designs oder Prozesse, die Nutzer:innen einer Website oder App zum
Anklicken einer bestimmten Einstellung und damit zur Zustimmung verleiten
sollen, etwa durch farbliche Hervorhebung. Ein anderer Teilnehmer gründete
mit zwei Partnerinnen ein Start-up, das digitale Lösungen für werdende
Mütter anbietet.
30 junge Wissenschaftler:innen bilden den Kern der ECRA, weitere 30 bis 40
stoßen gelegentlich hinzu. Von einem Erfolgsmodell spricht Zeeb, das auch
außerhalb Bremens auf immer größeres Interesse stoße und die
Gesundheitsforschung in der Hansestadt weiter stärke. „Wichtig ist, den
Teilnehmenden zu vermitteln, dass sie eine wichtige Rolle für den Erfolg
von gemeinsamen Forschungsprojekten spielen und nicht nur Zuarbeiter:innen
sind“, meint Zeeb. Und natürlich solle ihnen möglichst eine Perspektive
geboten werden.
Elida Sina hat diese Perspektive. Sie wird ihre Forschung am BIPS
fortsetzen. Das Fortbestehen des LWC und damit der ECRA ist zumindest bis
Anfang 2024 gesichert, dann läuft die Förderung aus. Zeeb ist guter Dinge,
dass sie für weitere vier Jahre verlängert wird. Und Hans-Henrik Dassow?
Seine Zukunft ist offen, er hat mit seiner Promotion später angefangen als
Elida und könnte von einer Verlängerung der Förderung profitieren.
Originalpublikation:
Impact – Das Wissenschaftsmagazin der U Bremen Research Alliance
In der U Bremen Research Alliance kooperieren die Universität Bremen und
zwölf Forschungsinstitute der vier deutschen Wissenschaftsorganisationen
sowie das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz - alle mit
Sitz im Bundesland.
Das seit 2019 erscheinende Magazin Impact dokumentiert die kooperative
Forschungsstärke der Allianz und ihre gesellschaftliche Relevanz.
„Nachwuchsförderung in der digitalen Gesundheitsforschung“ wurde in
Ausgabe 7 (Februar 2023) veröffentlicht.
https://www.bremen-
research.de/fileadmin/user_upl