anzsport: Schmerz als Symbol für Disziplin und Hingabe?
Tanzsport bei Kindern und Jugendlichen: Knallhart, mit vielen chronischen
Verletzungen und bleibenden Schäden
Tanzen – egal ob als Freizeit- oder Profisport – wird oft als reine
Kunstform betrachtet: schön aussehen, gelenkig sein und auf der Bühne/am
Parkett eine gute Figur abgeben. Doch Tanzsport ist ein knallharter
Hochleistungssport, bei dem das Risiko von Verletzungen sehr hoch ist. Wie
hoch wirklich, welche Risiken es gibt und warum diese physisch und
psychisch immer noch oft zu bleibenden Schäden im Leben führen – darüber
referiert Judith-Elisa Kaufmann, Tanzwissenschaftlerin und internationale
Universitäts-Dozentin, auf dem 38. Jahreskongress der GOTS in Luxemburg.
Kaufmann hat umfangreiches Datenmaterial aus Studien zu muskuloskelettalen
Verletzungen von Kindern und Jugendlichen im Tanz ausgewertet. Zum einen
im Bühnentanz, wie zum Beispiel Ballett, Jazztanz, Stepptanz. Zum anderen
im Tanzsport wie Standard oder Latein. Inkludiert waren sowohl Freizeit-
als auch Profitänzer.
Bei Jugendlichen zwischen 9 und 18 Jahren in der Berufsausbildung finden
sich Verletzungsraten zwischen 0.77 und 4.71 Verletzungen pro 1000
Trainingsstunden. Mit 1,38 Verletzungen auf 1000 Stunden Training
dokumentiert eine prospektive Studie zur Berufsausbildung im klassischen
Ballett ein Verletzungsrisiko von 76 Prozent während eines Schuljahres.
Eine weitere beschreibt bei Knaben 5,5 Verletzungen pro 1000 Stunden
Training, bei Mädchen 2,6 Verletzungen Alter von 15 Jahren.
Im Freizeitsport Tanz sieht es nicht besser aus. Von 1336 ärztlich
untersuchten Kindern im Alter zwischen 8 und 16 Jahren, die Ballett, Jazz
und Modernen Tanz trainierten, wiesen 42,6 Prozent Verletzungen auf.
Bei den Jüngeren (8–10-Jährige) sind es vor allem Tendopathien
(chronisch/Überlastungsverletz
Gelenksverletzungen, Entzündungen, Schmerzen im unteren Rücken und
Verletzungen an der Wirbelsäule. Bei den älteren Kindern ab 14 Jahren
verschieben sich die Verletzungsschwerpunkte vom Fuß auch zum Knie und zur
Wirbelsäule. Erschreckend hierbei ist, dass die chronischen Verletzungen
und Überlastungen mit 60-90 Prozent auch bei Jugendlichen dominieren.
„Dies müsste nicht sein, wenn es nicht das alte Klischee gäbe, durch die
Verletzung durcharbeiten zu müssen. Noch gibt es in der Tanzwelt eine Art
Athletenidentität: Schmerzen und Verletzungen gehören dazu. Je mehr du
trotz Verletzung und Überlastung schaffst, desto besser bist du
angesehen“, so Kaufmann.
Schmerz ist über Jahrzehnte in der Tanzwelt zum Symbol für Disziplin und
Hingabe geworden, sagt sie. Jedoch ist keine Änderung in Sicht, wenn
„Tänzer schon als Kinder lernen, weiterzumachen – trotz Verletzung“.
Sogar im Freizeitsport hat sich dieser Ansatz vielerorts etabliert:
Weitermachen, Zähne zusammenbeißen, Schmerz als Motivation und Maßstab für
Leistung sehen. Dieses traditonsverankerte Denken von Trainern, Lehrern,
der Gesellschaft und den Tänzern selbst gilt es zu durchbrechen, nicht nur
um Verletzungen vorzubeugen, sondern auch um Leistung und Wohlbefinden zu
steigern.
Intuitiv würde jedes Kind sagen: „Aua, bitte Stopp, da tut was weh“.
Normalerweise sucht jeder die Heilung. „Wenn dieser intuitiv-gesunde Weg
jedoch Konsequenzen nach sich zieht – vom Schief-Angesehen werden bis zum
Rauswurf aus Schulen oder Vereinen – läuft hier was falsch“, mahnt die
Wissenschaftlerin. „Das macht im Gehirn was mit den Tänzern, es erzieht zu
falschem Umgang mit Schmerz, falscher, kontraintuitiver Schmerzwahrnehmung
und somit gefährlicher Interpretation von tänzerischer Disziplin und
Zielsetzung.“ Viele Profi-Tänzer trauen sich nicht einmal, anonym an
Studien zu Schmerz und Verletzung teilzunehmen aus Angst, ihre Antworten
könnten von Arbeitgebern und Lehrern eingesehen werden.
Kaufmann betont die Wichtigkeit, Tänzer nicht nur als Künstler, sondern
auch als Athleten anzusehen. „Es geht nicht darum, schön dünn und hübsch
zu sein, sondern mit ausgewogener Ernährung die notwendige Fitness und
Kraft für die zu erbringende künstlerische Hochleistung zu haben. Nur
über evidenz-basierte gezielte Trainingsplanung kann die richtige Art von
Leistungssteigerung und eine umfangreiche Verletzungsprävention etabliert
werden.
Neben den bleibenden körperlichen Schäden durch Verletzungen und
Verschleiß wirkt die psychische Komponente so stark, dass viele ehemalige
Tänzer zeitlebens übermäßig auf Gewicht und Aussehen achten, sich
vergleichen müssen und es immer wieder anderen Menschen recht machen
wollen, um Leistung zu zeigen, nicht anzuecken, geliebt zu werden.
Am Herzen liegt Judith-Elisa Kaufmann deshalb auch die Aufklärung des
Publikums, der Medien und der Politik: „Will man da wirklich ganz dünne
Tänzer sehen, von denen einige gerade unter Schmerzen und mit niedrigem
Selbstkonzept einen Kunstgenuss darbieten? Oder sollen es in Zukunft
junge Sportler sein, die fit und voller Selbstvertrauen sind, Verletzungen
vorbeugen oder auch die Zeit bekommen und sich nehmen, diese gewissenhaft
auszukurieren?“