Lebenslange motorische Entwicklungen: Normkurven in der Praxis anwenden
Kraft und Koordination verändern sich im Laufe unseres Lebens und nehmen
im Alter drastisch ab – nicht so die Feinmotorik in Händen und Fingern.
Dies hat eine Forschungsgruppe um UZH-Entwicklungspädiater Oskar Jenni
herausgefunden. Normkurven sollen in der Praxis den Leistungsabbau besser
erkennbar machen.
Fingerfertigkeit, Koordination oder Gleichgewicht sind während unseres
ganzen Lebens äussert wichtig, verändern sich jedoch von der frühen
Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter. In welchem Lebensabschnitt ist
unser Gleichgewicht am besten? Nehmen Fein- und Grobmotorik mit dem Alter
immer mehr ab?
Forschende der Universität Zürich und des Universitäts-Kinderspitals
Zürich gingen diesen Fragen nach. Sie werteten Datenmaterial von 1620
Personen im Alter zwischen 6 und 80 Jahren aus, die von 1983 bis 2023 an
einem standardisierten Test zu ihren neuromotorischen Fähigkeiten
teilgenommen hatten. Dieses Zurich Neuromotor Assessment (ZNA) misst die
Feinmotorik (Fingerfertigkeit, Geschicklichkeit), die Grobmotorik
(Sprungkraft, Koordination), das Gleichgewicht (Balancieren mit offenen
und geschlossenen Augen), die Qualität der Bewegungen (etwa unwillkürliche
Mitbewegungen) sowie repetitive und serielle Bewegungen (schnelle Hand-
und Fussbewegungen).
«Der Vorteil dieses Tests ist, dass alle Altersgruppen – vom Schulkind bis
zur 80-jährigen Seniorin – die gleichen Übungen durchführen. Einzig die
Anzahl Wiederholungen wird altersgerecht angepasst. Dadurch sind die
gewonnenen Daten bestens vergleichbar», sagt Erstautorin Tanja Kakebeeke
vom Kinderspital Zürich.
Kraft und Gleichgewicht gehen früher zurück als die feine Koordination
Die Studienergebnisse zeigen: Die motorischen Fähigkeiten entwickeln sich
am schnellsten bei Kindern bis etwa zum 10. Geburtstag. Erwachsene
erreichen ihre Bestleistungen bezüglich Kraft, Gleichgewicht und
Koordination mit 20 bis 35 Jahren, wobei Männer gegenüber den Frauen im
Durchschnitt ein Jahr hinterherhinken. Mit steigendem Alter nehmen die
motorischen Funktionen bei den meisten Aufgaben ab.
Frauen schneiden tendenziell besser in Feinmotorik und Balance ab, Männer
in Grobmotorik und Kraft. Wer einen hohen Body-Mass-Index hat, ist weniger
gut bei Balanceübungen und in der Grobmotorik.
Ausserdem zeigt sich, dass im höheren Alter vor allem Grobmotorik,
Gleichgewicht und Muskelkraft schneller abnehmen. Die Feinmotorik dagegen
bleibt bis ins Seniorenalter stabil.
Normen für die klinische Anwendung
Die von der Forschungsgruppe publizierten Normkurven für neuromotorische
Funktionen erlauben es, in vier klinisch relevanten Bereichen individuelle
Leistungen von Patienten mit altersspezifischen Normen zu vergleichen, und
dies über die ganze Lebensspanne von 6 bis 80 Jahren. «Dies ermöglicht
insbesondere im Kindes- und im Seniorenalter, relevante Abweichungen oder
frühzeitigen Leistungsabbau zu erfassen und falls nötig, therapeutische
Massnahmen zu veranlassen», erklärt Letztautor Oskar Jenni, Professor für
Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Daher soll man der
Muskelkraft und dem Gleichgewicht im Alter Sorge tragen, aktiv sein und
sich möglichst viel und lange bewegen.