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Diagnoseübergreifende S3-Leitlinie definiert Standards für psychosoziale Behandlungsangebote

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Schwere psychische Erkrankungen beeinflussen viele Bereiche im Leben von
Betroffenen und ihren Angehörigen. Neben medizinischen und
psychotherapeutischen Ansätzen sind deshalb für eine umfassende Behandlung
auch psychosoziale Therapien zentral. Aber welche Angebote sind wirksam?
Für wen sind sie geeignet? Und wie können sie erfolgreich im
Versorgungsalltag umgesetzt werden?

Empfehlungen dazu bündelt die
umfassend überarbeitete, diagnoseübergreifende S3-Leitlinie „Psychosoziale
Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und
Nervenheilkunde (DGPPN).

„Die Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen soll
nicht nur Symptome lindern, sondern Lebensperspektiven eröffnen“,
erläutert Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Präsidentin der DGPPN.
„Als Behandelnde haben wir immer den ganzen Menschen im Blick – seine
Familie, seine berufliche Situation und sein weiteres soziales Umfeld. Die
neue Leitlinie hilft dabei, im Rahmen der Therapie die richtigen
psychosozialen Behandlungsoptionen auszuwählen.“

Zielgruppe der neuen S3-Leitlinie sind Menschen mit schweren psychischen
Erkrankungen wie beispielsweise Psychosen, bipolaren Erkrankungen,
schweren Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen. Die Leitlinie
verfolgt einen diagnoseübergreifenden Ansatz und adressiert erstmals auch
Menschen in frühen Krankheitsphasen, bei denen ein hohes Risiko für einen
schweren Verlauf besteht. So sollen Chronifizierungen und negative Folgen
in Beruf, Familie und weiteren Lebensbereichen verhindert werden. Die
Leitlinie richtet sich an alle Berufsgruppen, die an der Behandlung,
Rehabilitation und Teilhabe von schwer psychisch kranken Menschen
beteiligt sind. Sie bietet Orientierung, wie Betroffenen in der Behandlung
der Erkrankung möglichst früh wirksame psychosoziale Therapien angeboten
werden können.

Zentraler Fokus: Recovery

Ein wesentlicher Grundgedanke der Leitlinie ist der sogenannte „Recovery-
Ansatz“. Die Koordinatorin der Leitlinie Prof. Dr. Steffi Riedel-Heller,
Leiterin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health
an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und
Vorstandsmitglied der DGPPN macht deutlich: „Mit Recovery meinen wir hier
nicht die Heilung im medizinischen Sinn, sondern die Wiedererlangung von
Selbstbestimmung, Lebenssinn, sozialer Teilhabe und Lebensqualität – auch
dann, wenn Symptome fortbestehen. Was das im Einzelfall bedeutet,
bestimmen die Betroffenen selbst.“

Von Beginn an waren deshalb Betroffene und Angehörige aktiv in die
Überarbeitung der Leitlinie eingebunden: Eine trialogische Arbeitsgruppe
aus Betroffenen, Angehörigen und dem Autorenteam diskutierte regelmäßig
offene Fragen, Ergebnisse und Empfehlungen. So wurde gewährleistet, dass
die Leitlinie die Lebensrealität der Betroffenen widerspiegelt.

Systematische Orientierung

Psychosoziale Therapien sind vielfältig: Von Ergotherapie, künstlerischen
Therapien oder Bewegungstherapie, über Ansätze bei denen ein
multiprofessionelles Team die Betroffenen zu Hause aufsucht, Angebote in
den Bereichen Bildung, Arbeit und Wohnen bis hin zu Maßnahmen, die das
Selbstmanagement der Betroffenen unterstützen. Angesichts der Vielzahl der
Angebote bietet die klare Struktur der Leitlinie Orientierung. Vom
individuellen Bedarf ausgehend werden Bereiche wie berufliche und soziale
Teilhabe, Gesundheitskompetenz und Selbsthilfe, Behandlungsoptimierung
sowie Wohlbefinden und Gesundheit systematisch abgebildet. So liefert die
Leitlinie eine vollständige Übersicht über alle für Menschen mit schweren
psychischen Erkrankungen zur Verfügung stehenden psychosozialen
Behandlungsmöglichkeiten – samt deren Verortung im deutschen
Versorgungssystem.

Damit wird auch die Frage adressiert, wie die Empfehlungen der Leitlinie
leistungsrechtlich umgesetzt werden können. Koordinatorin Steffi Riedel-
Heller betont: „Unabhängig vom Kostenträger oder vom jeweils zuständigen
Sozialgesetzbuch hilft die Leitlinie evidenzbasiert bei der sinnvollen
Auswahl wirksamer Therapien. Nicht das Angebot steht im Mittelpunkt,
sondern die jeweilige Person und ihr tatsächlicher Unterstützungsbedarf.“

Die überarbeitete S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren
psychischen Erkrankungen“ der DGPPN umfasst insgesamt 44 Empfehlungen. 15
davon wurden in dem zweijährigen Konsensusprozess neu erarbeitet, 13
wurden aktualisiert. Insgesamt waren 43 Fachgesellschaften, Verbände sowie
Betroffenen- und Angehörigenorganisationen beteiligt. Die Leitlinie wird
im Leitlinienregister der AWMF veröffentlicht und ist zudem auf der
Website der DGPPN verfügbar.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN)

Die DGPPN ist die größte deutsche medizinisch-wissenschaftliche
Fachgesellschaft auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit. Sie bündelt
die Kompetenzen von mehr als 12.000 Fachärztinnen und Fachärzten,
Therapeutinnen und Therapeuten sowie Forschenden der Fachgebiete
Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Die
DGPPN vertritt die Interessen ihrer Mitglieder in Versorgung,
Wissenschaft, Lehre, Aus-, Fort- und Weiterbildung und klinischer Praxis
und gestaltet die Gesundheitspolitik aktiv mit.

Die DGPPN engagiert sich in der Erforschung psychischer Erkrankungen,
stellt hierzu Netzwerke zum Austausch bereit und informiert über die
neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse – unter anderem beim DGPPN
Kongress, der jährlich im November in Berlin stattfindet. Herausragende
Arbeiten und Projekte in Wissenschaft und Versorgung sowie im
gesellschaftlichen Kontext würdigt die DGPPN mit Preisen und
Auszeichnungen.

Darüber hinaus gibt die DGPPN Leitlinien zur Sicherung der Qualität bei
der Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen heraus. Dabei steht
die ganzheitliche Sicht auf den Menschen mit allen individuellen
psychischen, körperlichen und sozialen Aspekten im Zentrum. Die
Fachgesellschaft entwickelt ebenso Richtlinien für ethisches Verhalten in
Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.