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Irène HubschmidLiebe Leserfreundinnen und Leserfreunde

wie in meinem letzten Essay über FREUNDE angekündigt, erzähle ich diesmal von meiner kürzesten Herzensfreundschaft.

 

In Genf gibt es eine „Rue Pierre Fatio“ und ein Denkmal Pierre Fatio. Dieser Revolutionär wurde im Alter von 45 Jahren 17O7 erschossen.

Als Aristokrat und Mitglied des Rates der Zweihundert in Genf (gegründet in der Reformation Calvins) setzte Fatio sich vehement für die bürgerlichen demokratischen Rechte ein. Ein Unbequemer fiel in Ungnade!
Denyse Fatio, seine Ur-ur-urenkelin, die letzte aus diesem Stammbaum wurde meine Freundin. Sie hatte denselben Jahrgang wie meine liebe Mutter, 1923.

An einer Geburtstagsfeier im Kreise der Familie meiner „Coucousine“ (Cousine 2. Grades) lernte ich die elegante, dynamische alte Dame kennen.

Denyse lebte 58 Jahre in Rom. Sie besetzte eine hohe Position bei der FAO (Food and Agriculture Organization).

Ungewöhnlich für eine Frau Mitte des 20.Jahrhunderds. Mit einer Ausbildung in der „Töchti“ Zürich (höhere Töchterschule) besass sie keinen akademischen Titel.

Ihr Musikgehör für Sprachen imponierte mir. Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch, „Züritüsch“ gingen ihr fliessend über die Zunge.

An Heiraten dachte meine Freundin niemals. Interessante Lebenspartner begleiteten ihren selbständigen Alltag, für „Latin Lovers“ fühlte sie keine Schwäche. (Im Gegensatz zu mir. – )

Gastfreundschaft, Grosszügigkeit, Empathie, Schlagfertigkeit und Ironie zeichneten Denyse aus.

Anlässlich einer gemeinsamen Einladung erkundigte sie sich, wer denn der Herr neben mir war. Ich sagte: Ein Altersheimdirektor. Sie: „Dass der überhaupt noch schlafen kann!“

Mit 87 Jahren löste sie ihren grossen Haushalt in Rom auf, um sich in Zürich in einer Altersresidenz niederzulassen. Nur ein Zimmer, vollgestopft mit Objekten von denen sie sich nicht trennen wollte. Ein Sammelsurium von Kleinigkeiten.

Nach einem schweren Autounfall im Alter von 77 Jahren funktionierten Denyses Beine nicht mehr wie früher.

Die körperliche Gebrechlichkeit schlug ihr aufs Gemüt, trotzdem zeigte sie reges Interesse an ihrer Umwelt.

Zweimal wöchentlich mindestens wollte sie in der Stadt Besorgungen machen. Dafür suchte sie eine Spitex- Begleitung (Pflegedienst in der Schweiz).

Auf mein Angebot, diese Aufgabe könnte ich doch übernehmen, reagierte Denyse positiv. Ihr neues Refugium lag nicht weit entfernt von meinem neuen Zuhause.

Arm in Arm – ich 1.76m lang, sie 1.58m kurz (wie Bâton-Patachou, sagte Denyse jeweils) wandelten wir zur Strassenbahn, durch die Bahnhofstrasse, in Geschäfte, Cafés, Konzerte, Theater oder Apotheken und Arztpraxen.

Ins Kino ging sie weniger gern, da sei es ihr zu eng und muffig, sie würde sofort einnicken.

Am ersten Tag unserer Einkaufstour stand an oberster Stelle ihrer Liste eine Kaffemaschine. Wir entschieden uns für die chique, kleine schwarze von Nesspresso.

Verwöhnt vom Kaffeegeschmack in Rom wollte sich Denyse ihren eigenen Espresso im Zimmer brauen. Es mangelte nie an Grund, Besorgungen erledigen zu müssen.

Sei dies nur eine Einzahlung per Post oder Schokolade einzukaufen für mich. Sie selbst kostete selten davon, wegen Diabetes, gegen die sie schon etliche Jahre anzukämpfen hatte.

Da sich unsere Domizile nicht weit voneinander entfernten, kam sie gelegentlich zu mir essen. Apéro und Wein verschmähte sie nie.

Wenn Freunde von mir dabei waren, in meinem Alter, lobten sie im Nachhinein Denyses geistige Vitalität. Überhaupt konnten wir viel lachen.

Sie erinnerte mich in vielen Situationen an meinen Mann, den sie übrigens verehrte. Beide untermalten mit ihren treffenden Kommentaren und Assoziationen jeweilige Unterhaltungen.

Innerhalb kurzer Zeit pflegten wir eine Geheimsprache, besonders bei Namen in der Residenz.

Der Volkstribun, (ein wichtigtuerischer Nachbar von Denyse), Frau Zumutung, (ein Residenzbewohnerin, die sich dauernd beklagte), das „Residenztwiggy“ (eine übervollschlanke Pflegerin) usw.

Zwei Tage vor ihrem 88. Geburtstag Ende Juli, nach einem delikaten Mittagessen bei unserem Lieblingsitaliener Orsini, schlürften wir retour in ihrem Zimmer unseren Espresso. Sie sagte: „Irène, ich muss dir ein Geheimnis kundtun. Ich habe den Entschluss gefasst, am 28. September, mich mit EXIT vom Leben zu verabschieden.

Du weisst, ich leide seit meinem Unfall an Parkinson. Ich will nicht noch mehr auf die Hilfe anderer Leute angewiesen sein, nicht noch mehr dem eigenen körperlichen Zerfall erliegen.“

Von ihrem Parkinsonleiden wusste ich schon lange, aber verglichen mit dem meines Mannes, erschienen mir ihre Beschwerden relativ erträglich. Mich schockierte ihre Nachricht.

Von Tapferkeit oder Souveränität meinerseits keine Spur. Meine Tränen flossen in Strömen.

Vor lauter Verzweiflung äusserte ich fast vorwurfsvoll: “Paul hat auch bis zum bitteren Ende durchgehalten!“ Denyse entgegnete nichts. Nach zwei fast schlaflosen Nächten hatte ich mich wieder etwas gefasst.

Ich versprach, niemandem davon zu erzählen – mein Versprechen hielt ich nicht ganz ein –.

Dies erlaubt mir das Glück, FREUNDE zu haben, denen ich voll vertrauen kann. Meinen Seelenschmerz musste ich irgendwie mitteilen oder verteilen.

Das Leben beschenkte mich bisher selten mit Begegnungen bemerkenswerter Menschen. Es kommt vor, dass sich beim ersten Kennenlernen kein zweifelndes Gefühl anmeldet – so auch mit Denyse – aber das Gegenteil passierte mir weit mehr.

Anfangs verdrängte ich diesen Argwohn als lästige Vorurteile. Die Zeit lehrte mich jedoch, meinen Instinkten zu vertrauen. Es bewahrt mich besser vor Enttäuschungen.

Die letzten zwei Monate mit Denyse verliefen im selben Modus wie bis anhin. Sie liess sich wöchentlich die Haare neu frisieren, ich machte ihre Maniküre, wir gingen in die Stadt, besuchten Freunde und Familie, spazierten durchs Quartier, nippten in ihrem Refugium einen Campari, hörten einander zu.

Die Stunden mit Denyse bedeuteten für mich gewonnene Lebensqualität. Manchmal kam das Gespräch auf ihren geplanten Abschied vom Leben.

Ich fragte: „Hast du keine Angst?“ Sie: „Überhaupt nicht. Ich bin neugierig!“ Ich: „Gibst du mir manchmal ein Zeichen aus dem Jenseits?“ Sie: „Ich werde immer bei euch sein!“

Schon bei Denyses Ankündigung ihres Vorhabens sagte ich: „Ich habe keine Nerven, dich zu begleiten.“

Sie: „Ich wollte alles alleine durchziehen, aber deine Coucousine und ihre mir sehr liebe Freundin wollen mitkommen. Nicht mal kurz vorm eigenen Tod kann man entscheiden wie man will.“

Ihre Abgeklärtheit ging mir unter die Haut. Trotzdem vermute ich, war sie nicht abgeneigt von einer liebevollen Begleitung für ihren letzten Schritt.

Ci vediamo cara Denyse, ich danke Dir für unsere einjährige „Schwesternschaft“!

Das Nächstemal erzähle ich von meiner längsten Freundschaft.

Eine gute Zeit, Ihre Irène Hubschmid.

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