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Staatstheater Szenenfoto von Ingo Hoehn
Staatstheater Szenenfoto von Ingo Hoehn

Produktion:
Musikalische Leitung: Stefan Schreiber Regie: Lydia Steier Mitarbeit Regie: Matthias Piro Bühne: Barbara Lenartz , Sophia Schneider Kostüme: Jennifer Mosen Choreografie: Luca Signoretti Dramaturgie: Lars Gebhardt , Johanna Mangold Choreinstudierung: Mark Daver

Besetzung:
Eyrún Unnarsdóttir Solenn’ Lavanant Linke Marcela Rahal Ziad Nehme Sebastià Peris Rainer Zaun Christian Baumbach Hugo Tiedje Raphael Schmitz TanzLuzern: Carlos Kerr Jr. , Dario Dinuzzi , Valeria Marangelli , Lisa Gareis , Phoebe Jewitt , Igli Mezini , Flavio Quisisana , Mathilde Gilhet , Mathew Prichard , Gabriele Rolle , Marija Burceva , Marta Llopis Mollá Chor des LT Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO; Chloë Abbott, Jack Adler-McKean, Alice Belugou, Carlota Cáceres, Lucia Carro Veiga, Antoi Luzerner Sinfonieorchester (Einspielung)

Allgemeiner Prolog zum «Staatstheater»

Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn
Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn

Regisseur Jürgen R. Weber über Mauricio Kagels provokative szenische Komposition „Staatstheater“. Bombendrohung vor der Uraufführung 1971 in Hamburg:  Die anonyme „Aktionsgemeinschaft junger Freunde deutscher Opernkunst“ zeigte sich im Jahr 1971 nicht erfreut über die in Hamburg angekündigte Uraufführung von Mauricio Kagels „Staatstheater“ und artikulierte dies wenig zimperlich in einer Bombendrohung. Von dem angekündigten Attentat sollte die eilig unter Polizeischutz gestellte Hamburgische Staatsoper zwar verschont bleiben, aber das Stück selbst sorgte dann doch für erhebliche Erschütterungen in der Opernwelt. Denn es stellte in seinem anarchischen Furor die Gattung selbst radikal in Frage. Doch wenn Intendant Rolf Liebermann später gefragt wurde, was denn das wichtigste Werk unter all den vielen Neuheiten an seinem Haus gewesen sei, fiel seine Antwort immer gleich aus: „Staatstheater“ von Mauricio Kagel.

Rezension:

Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn
Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn

Die erste Produktion unter der neuen Intendantin des Luzerner Theaters Ina Knarr, mit dem Stück «Staatstheater» (deklariert als: Oper, Tanz, Schauspiel) von Mauricio Kagel, macht die Essenz des Theaters, das Theaterspielen selbst, zum Thema und spielt gleich an drei Orten. Es beginnt auf der Theaterbühne, das Ensemble disloziert gemeinsam mit dem Publikum zur Franziskanerkirche in Form einer Prozession und dort findet das Ganze auch seinen Abschluss.

 

 

 

Wenn man Regeln aufstellt, sich aber selbst nicht daran hält

Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn
Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn

Die Luzerner Theatermacher gehen auf Nummer sicher, ganz nach dem Motto: doppelt genäht, hält besser! So gilt da nicht das übliche 3G, sondern G und M  ist doch, neben dem Vorweisen eines Corona Zertifikats, auch das Maskentragen im ganzen Haus obligatorisch. Umso erstaunlicher, gar ärgerlich, wenn dann praktisch während der ganzen Dauer der Einführung von ca. 45 Minuten die im Foyer wohl am meisten beobachteten Personen, Stadtpräsident Beat Züsli, wie auch Stiftungsratspräsidentin Birgit Aufterbeck-Sieber und die neue Intendantin Ina Karr nach ihren Ansprachen die Masken nicht mehr trugen, im Gegensatz zu dem ebenfalls anwesenden Altbundesrat Moritz Leuenberger, der den Luzernern die Ehre seines Besuches erwies und für einmal nicht rebellisch, sondern folgsam war.

Einführung und Begrüssungsapéro

Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn
Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn

Die Stiftungspräsidentin hiess im sanft aufgefrischten Foyer die Premierenbesucherinnen willkommen, stellte die neue Intendantin kurz vor, erwähnend, dass die Verpflichtung der renommierten, vielbeschäftigten Theaterfrau nicht ein ganz einfaches Unterfangen gewesen sei und man jetzt sehr optimistisch sei, mit Ina Karr die richtige Person für eine erfolgreiche Zukunft ins Boot, respektive ins Theater, geholt zu haben. Stadtpräsident Züsli war in seinem kurzen Statement zuversichtlich, dass die kommenden politischen Hürden für einen ev. Neubau, respektive eine Totalsanierung des nicht mehr zeitgemäßen Luzerner Theater überwunden werden und mit dem dann geplanten Architekturwettbewerb ein weiterer großer Schritt in die richtige Richtung getan werden könne. Dann begab man sich gespannt in den Theatersaal um das von Operndirektorin Lydia Steier aufbereitete Werk zu geniessen.

Kann man ein Theaterstück machen, wenn es dafür gar keine Geschichte gibt?

Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn
Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn

Das Werk negiert alles, was Oper ausmacht: Es gibt kein klassisches Libretto, keine Handlung, weder große Arien noch ein begleitendes Orchester.

In Corona-Zeiten wichtig: In Kagels „Staatstheater“ bleibt der Orchestergraben leer. Die Musiker agieren wie alle anderen Beteiligten auf der Bühne. Und die Chorepisoden kommen — wie bei der Uraufführung — von Band.

Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn
Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn

Genau das machen die Luzerner Theaterschaffenden. Nach der ausführlichen Einführung und Begrüßung im neugestalteten Theaterfoyer startet das Staatstheater im Theatersaal mit den Zuspielungen von 13 verschiedenen Videoclips aus drei, mobil in der Stadt platzierten Containern, auf die auf der Bühne aufgestellte Leinwand. Diese, teils Slapstick artigen Short Stories bringen zum Schmunzeln, erzeugen teils auch Gelächter. Da domptiert eine Cleopatra ähnliche Dame, auf dem Thron sitzend, nicht nur Geparde, sondern auch zwei, in Ketten gelegte Sklaven, mit passend unterlegtem Soundtrack von Kettengerassel. Mal imitiert eine Dragqueen am Mundstück einer Tuba eine Fellatio. Ein anderer Clip zeigt eine überdimensionierte Vulva, aus der nach etlichen Wehen, ein knallrotes Baby flutscht.

Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn
Staatstheater Szenenbild von Ingo Hoehn

Anschliessend bevölkern bekannte Figuren aus Schauspielen und Opern die Bühne, die sich gegenseitig den Platz streitig machen. So versucht z.B. Hamlet schon fast verzweifelt, endlich seinen Monolog vom „Sein oder Nichtsein anzubringen, wobei ihm gar ein Stück der Rüstung nach dem andern scheppernd zu Boden fällt. Zudem verhindern die andern, etwa Mozarts Papageno und Wagners Siegfried böswillig all seine weiteren Versuche. Jede probiert sich irgendwie in Szene zu setzen und sich so Beachtung beim Publikum zu sichern. Da entert auch noch Lohengrin die Bühne, nicht ohne seine Schwäne, die aber nicht aus dem Luzerner Seebecken stammen (Erleichterung bei Tierschützern), sondern wahrscheinlich aus einem Spielzeugladen, da aus Kunststoff mit zeitgemäßem Elektroantrieb und ferngesteuert. Figuren aus der griechischen Mythologie fanden auf der Bühne ebenso ihren Platz wie Geschöpfe aus der Commedia dell`Arte. Ein besonders eifriger Clown schlägt das Rad, macht Kapriolen, so um Anerkennung und Beachtung werbend. Die beiden Mariachi, die ihr «La Cucaracha» einfach nie anstimmen konnten usw.

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Lohengrins Schwäne rollen durch barocken Kulissenzauber

Ein „Erklärer“ versuchte dann, dem Auditorium die Fassung von Regisseurin Lydia Steier näher zu erläutern, dies im Ringen um des Publikums Gunst mit einem Tanzpaar, das gleichzeitig einen „Pas de deux“ aufs Parkett zauberte. Anyway, eigentlich wollte man ja auch nichts erklärt haben, da es möglicherweise gar nichts zu erklären gibt.

Kurz darauf wurden wir des Saales verwiesen! Nicht etwa, weil wir uns nicht Coronaconform verhalten hätten, sondern weil das Stück in der Franziskanerkirche fortgesetzt werden würde.

 

 

Nein, es war kein Demonstrationszug des KKK vom Luzerner Theater zur Franziskanerkirche

Auf dem Weg zur Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn
Auf dem Weg zur Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn

So versammelten sich alle auf dem Theaterplatz, wo die Chormitglieder aufgereiht waren zur nun folgenden Prozession. Auf einer Trage, ähnlich der biblischen Bundeslade, wie sie in südlichen katholischen Ländern wie Italien und Spanien in Karwochen Prozessionen, also während der „seemana santa“, üblich sind wurde ein Modell des Luzerner Theaters zur Franziskanerkkirche getragen.

Wenn die Roben und Kapuzen weiss gewesen wären, hätte man es, bei oberflächlichem Hinsehen, tatsächlich für einen Umzug des berüchtigten Ku-Klux-Klans halten können, diese Dislokation der Akteurinnen und Besucherinnen  vom Luzerner Theater zur Franziskanerkirche, anlässlich der schweizerischen Erstaufführung der Produktion «Staatstheater». Alsbald setzte sich der Zug, an dessen Spitze ein Bischof das Tempo diktierte, Richtung Kirche in Bewegung, die Akteure voraus, das Fussvolk, also wir, folgsam hinterher.

Höllenspektakel ausgerechnet in einer Kirche

Auf dem Weg zur Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn
Auf dem Weg zur Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn

Die Mitglieder des Chors des Luzerner Theaters intonierten in der Franziskanerkirche, immer noch in die Roben des Umzugs der «Semana Santa» gehüllt, nun aber mit Halbmasken, statt Kapuzen, die überaus anspruchsvollen, aber eigentlich sinnfreien Vokalisen Kagels, wofür sie sich einzeln in der ganzen Kirche verteilt aufstellten, in deren Zentrum eine Art Laufsteg, wie für einen Catwalk aufgestellt war. Auf diesem präsentierten sich dann in lockerer Folge die vorher schon im Theatersaal agierenden Opern- und Schauspielfiguren von Hamlet über Lohengrin und Papageno bis zu Wagners Siegfried usw., wobei diese Rollen nicht spezifisch einem Geschlecht zuzuordnen sind, also genderkonform. Einige durften sich gar auf der Kanzel produzieren. Die alles zu den seltsamen Kunstklängen des argentinischen Komponisten, ergänzt durch Schlagwerk und Bläser Klänge. Kakophonisch, wie von Luzerner Guugen an der Fasnacht gewohnt.

Güdismontagtrubel in der Franziskanerkirche

Szenenfoto aus der Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn
Szenenfoto aus der Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn

In der Kirche herrschte tatsächlich eine Atmosphäre wie an der Lozärner Fasnacht vor Corona. Die Ereignisse überschlugen sich, die Figuren wie vorher auf der Theaterbühne, wollten sich auch hier mit ihren Darbietungen wieder den Rang ablaufen. Dies sogar im wörtlichen Sinn, huschten sie doch durch die Kirchengänge und über den Laufsteg, gehetzt von Mephisto und gelockt von einer sexy Madonna mit gut sichtbaren Strumpfbändern.

 

 

 

Es ging zu wie im «hölzige Himmel» wie wir Lozärner zu sagen pflegen

Szenenfoto aus der Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn
Szenenfoto aus der Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn

Obs der Faust`sche oder Mann’sche Mephisto ist und obs die biblische oder die Popmadonna ist, bleibt auch ungeklärt wie so vieles in diesem Spiel, das, obwohl so völlig schräg und vor allem ungewohnt, die Zuschauerinnen voll begeisterte, was sich im nicht enden wollenden Schlussapplaus klar definierte. Die Akteurinnen boten ein aussergewöhnliches Spektakel, ein Feuerwerk an Spielfreude und Ausgelassenheit.

 

 

Szenenfoto aus der Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn
Szenenfoto aus der Franziskanerkirche Foto Ingo Hoehn

Die neue Intendanz startete fulminant stürmisch, gewagt, aber auch gekonnt in eine neue Ära, die Aussergewöhnliches verspricht und, so meine Überzeugung, auch halten wird. Der Start jedenfalls war vielversprechend und macht «Gluscht» auf mehr. Wenn sich solch Grandioses in einigermassen absehbarer Zukunft.auch noch in einem würdigen Gebäude darbieten liesse, ist dem Luzerner Theater ein Platz auf dem nationalen Podium sicher, vielleicht gar zuoberst, wer weiss.

Kleine Fotodiashow von Ingo Hoehn:

fotodiashows.wordpress.com/2021/09/05/luzerner-theater-staatstheater-schweizer-erstauffuhrung-koproduktion-mit-lucerne-festival-premiere-5-september-2021-besucht-von-leonard-wust/

Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.luzernertheater.ch     Ingo Hoehn

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